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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

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Heft 18 (2. Juniheft 1920)
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Lose Blätter
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0301

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recht: ich taugte nicht in die Welt — ich hätte zu Hause bleiben müsseu.
So trieb ich es eine Stunde, zwei Stunden, drei Stunden lang — ich
weiß nicht, wie lange. Nur das eine weiß ich, daß inich zuletzt ein
stumpfer Gleichmut beherrschte. Was mit mir geschehen würde und könnte
— ob der Gefreite Botschaft bringen, und wie sie lauten werde — all das
war mir nun ganz einerlei geworden; ich dachte nicht mehr darüber nach.
Ich dachte überhaupt nicht mehr; selbst die Gewißheit, erfrieren zu müssen,
hätte den Stumpfsinn, der über mich gekommen war, nicht gestört. Mich
beherrschte das Gefühl größten linbehagens; doch ich ertrug es ohne Wunsch
und Iammer.

Ws ich wieder einmal auf dem Ohr im Graben lag, fühlte ich den Schall
von Fußtritten. Deutlich hatte ich die Vorstellung, daß nun der Posten
abgelöst werde; doch dem Geiste mangelte so gänzlich die Spaunkraft,
daß er weder an Erlösung, noch an die versprochene Botschaft dachte. Deutlich
auch vernahm ich das Kommando „Halt!" und das scharfe Aufstampfen
der Füße. Ich hörte, daß Männer zueinander sprachen und fühlte dann
abermals Schritte. . .

„Wo steckt er denn? . . . Er ist fort! Hol ihn der Popelmann!" Ganz
nahe meiner Lagerstatt erschollen diese Worte, und ich rafste mich auf,
unwillkürlich, ohne zu wissen, ob ich wache oder träume.

„Dort wackelt er ja! . . . Das ist ein Besoffener! Du, Audiat!"

Meine Sinne Hatten sich rasch gesammelt, und nun sah ich in der
Dunkelheit die Amrisse mehrerer Soldaten; auch kam mir schnell mein Elend
zum Bewußtsein; ich nahm also an, daß die Soldaten mich abholen
wollten.

„Na, wie steht's? Willst du nach Sachsen oder nach Osterreich?"

„Nach Sachsen!"

„Dann komm mit! Aber ein bißchen plötzlich, sonst kannst du hier
liegen bleiben, bis dir Gras aus dem Kopfe wächst. Solche Schlunken
kommen überall durch; anständige Leute nicht!"

Die fünf Mann starke Truppe machte kehrt und marfchierte ab; humpelnd
und mühselig lief ich daneben her. Als die schnell ausschreitenden Krieger
einige Zoll Vorsprung genommen hatten, wendete sich der Führer um und
sagte, wenn ich wolle, könne ich ruhig zurück bleiben; den Sachsen läge
nichts an mir; ihr Bedarf an Landstreichern fei reichlich gedeckt. Ich schwieg
und bewegte mich ein wenig rascher, um seinen Unmut zu beschwichtigen.

Vom tzeute fürs Morgen

Nehmen und Geben

er von Leonardos Abendmahlsbild
die berühmte Beschreibnng Goethes
liest, kann eines vcrmissen: daß die bei-
den Hauptgestalten Iesus nnd Iudas in
ihrer überragendcn Bcdcutung nicht zu
ihrem Recht kommen. Allcin schon der
Kampf der beiden Händepaare ist mit
das Eindrueksvollste, was Kunst je ge-
schaffen hat. Wie die rechte Hand des
Iudas den Veutel nmkrampft, wäh-
rend die entgegengcsetzte linke Hand

Iesu die Gebärde des großen Gebens
macht: — zwei Menschenarten! Zwei
Welten! „Für mich!" „Für euch!"
Auch die beiden mittleren Hände
kämpfen einen stillen Kampf gegen-
einander: die rechte Hand Icsu ist nur
wie zum Schutz und zur Warnung
leicht gehoben, die entsprechende rechte
Hand des Iudas, obwohl außerordent-
lich ähnlich in der Haltung, spricht von
Furcht, Mißtrauen, Feindseligkeit. Wie
die raffcnde Hand des Iudas das Salz--

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