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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

DOI Heft:
Heft 21 (Septemberheft 1920)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: Von der "anderen Welt" und ihrer Dichterin: ein Brief nach Helene Böhlaus sechzigstem Geburtstage
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0452

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Von der „andern Welt" und ihrer Dichterin

Ein Brief nach Helene Böhlaus sechzigstem Geburtstage

ls ich kürzlich, verehrter Freuird, bei unserm gemeinsameu Be-
7^/1 kaunten R. war, hatten wir ein Gespräch, das mir lange nachgegangen
'^T-'ist. Sie wissen, daß er von Beruf Ingenieur ist und erst in reiferen
Iahren seine jetzige Stellung gewann. Nun sprachen wir von Erfolgen,
die sozusagen über Nacht koinmen, wie das in der Zeit der Kriegs- und
Wuchergewinne ja naheliegt. Gibt es heute noch redliche Lrfolge dieser
Art von großem Ausmaß? Kaum!, meinte er. Der Operettenfabrikant kann
durch einen Schlager Millionär werden, ja — aber von den ernsten Dra-
matikern gewinnt kaum eiuer im Iahrzehnt auch nur Hunderttausende. Ich
frug ihn, den Fachmann, nach dem Erfinder. „Erfindungen", sagte er, „gibt
es nicht mehr." Alles ist Konstruktion, ist Lösung einer rational gestellten
Aufgabe mit bekannten rationalen Mitteln. Es gibt gute und schlechte
Konstrukteure, solche, die alle Kunstgriffe, Methoden, Kombinationen, Be-
rechnungsweisen innerlich bereit haben und sie rasch uud sicher zu immer
neuen Kombinationen vereinigen, aber dies Können weicht schou fast grund-
sätzlich ab von dem des früheren Erfinders, der gleichsam frei aus der
Phantasie schuf, und auch der Verlaus ist anders, denn heutige Lrfin-
dungen durchlausen von vornherein eine Bahn des Verbessertwerdens, des
Aus- und Nmgestaltetwerdens, des Rationalisiertwerdens, für die es Iahre
braucht; dann erst, kaum wieder zu erkennen, erblickt und ertrügt die
„Lrfindung" das Licht dieser klugen und anspruchvollen Welt. Ist dies
nun nicht ein Sinnbildhaftes, ein Vorgaug, der für all unser Treiben be-
zeichnend sein mag? So „konstruieren" wir unser erwerbendes, unser
geschäftliches, unser unternehmerisches Dasein, so wollen und müssen wir
jetzt unsere Einzelarbeit konstruieren, so suchen wir durch „Organisation"
unser gesellschaftlich-geselliges Dasein zu koustruieren nach Methoden, nach
erfahrenen Grundsätzen, mit rationalen Lrwägungen, die ein jeder zu-
reichend Begabte lernen kann. Kaum wieder zu erkeunen ist schließlich
im Erwachsenen das Kind, ist im fertigen Werke die anfängliche „Er-
findung" auf der Skizze des Konstrukteurs. Kaum wieder zu erkennen
ist die Stadt, der Verein, die einzelne gewerbliche Anlage, die, vor Iahr-
zehnten gegründet, einstmals ein triebhaftes, naturhaftes Dasein führten
und seither dem wunderlichen Schicksal verfielen, immer klüger verbessert,
immer bewußter um- und ausgestaltet, immer zielsicherer organisiert zu
werden. Ist es so, dann gewöhnt uns dieser Gedanke ein Staunen ab,
das uns unsre Iugend hindurch begleitet hat. Denken Sie, wie wir
das erste Mal einen Eisenbahnhof größten Maßes, eine industrielle Aulage
vou Rang sahen; welche Leistung, welcher Sieg des Geistes! Dichter haben
es „besungen", was da geschah und von klugen Führern geleitet wurde.
Der Krieg brach aus, und Millionen, tausendmal Tausende mit allem Gerät
und Apparat setzten sich in Bewegung — welch ein Ereignis! Kein Wort
schien der Bewunderung zu genügen. Dann kam die „Nmstellung der
Wirtschaft" auf den Krieg. Ein Eingriff wie von überirdischer Gewalt,
allumfassend, bis in die fernste Bauernhütte und das kleinste Großstadt-
zimmer spürbar. Wieder eine Leistung von scheinbar erschütternder Größe.
Sie fand keinen Sänger. Nnd heute glaube ich fast, daß das Besingen
dieser Sphäre der Leistungen sein Ende nimmt. Wir beginnen die Leistung
als solche zu „begreifen", wir sehen sie entworfen werden al's Konstruktion-

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