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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

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Heft 15 (1. Maiheft  1920)
DOI Artikel:
Fischer, Eugen Kurt: Formzertrümmerung
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0137

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Musikante war und Tolstoj ein Gras, Robespierre ein gütiger, aber durch
sein Amt zur Furie gewordener Franzose und Lenin ein vermutlich eben-
solcher Russe? Gab es damals einen Aufstieg aus dem Chaos, so kann
es heute erst recht einen geben. Auch wir haben Pestalozzis, haben Sied-
ler, haben erprobte Formen genossenschaftlichen Lebens. Und dazu er°
oberten wir uns in diesen s30 Iahren die ganze organische und anorga-
nische Natur nicht nur als dienende Kraft, sondern immer mehr auch als
Gegenstand ästhetischen Genusses, als liebgewonnene tzeimat. Weil wir
soviel verloren haben, ist auch unsere Sehnsucht gewachsen, sie hat sich
zum Teil schon vor dem Krieg in Wanderbünden, Iugendvereinen, Garten-
städten, Volkskunstverbänden u. a. m. geäußert. Und damit ist noch ein
Wundersames groß geworden in den Herzen vieler Menschen: die Achtung
vor dem Leben. Der Krieg, die Diktaturgelüste revolutionärer Cliquen,
die Fabrik, die Gesundheit und Sittlichkeit stündlich gefährdende Großstadt
hat diese Achtung in Millionen erstickt, aber in andern um so stärker auf-
flammen lassen. Nnd schließlich: der Gebildete wurde Pazifist oder tief-
religiöser Vermittler zwischen den streitenden Volks- und Völkergruppen
sonst, und der Nngebildete — Deserteur und Rebell. Der Gebildete wan-
delte sich aus Mitleid mit der Allgemeinheit, der Nngebildete aus Mit-
leid mit sich und den Seinen. Konnte das anders sein? Nnd weiter: der
Gebildete übte Kritik an den vorhandenen Formen, und der Nngebildete
zerbrach sie — weil sie ihr Menschentum entdeckt hatten, das in diese
Formen scheintot eingemauert gewesen war.

Das ist das ungeheuerste Erlebnis, das aus aller Formzertrümmeruug
der Menschheit herauswächst, die Sehnsucht nach der verschütteten Seele.
Freilich: wie weit sie wieder frei und lebendig werden wird, das wissen
wir nicht. Aber das wissen wir, daß gerade die Wissenden dafür sorgen
müssen, daß die Nngebildeten nicht mehr zurückverfallen in jene grund-
sätzliche Abgeschiedenheit von allem Lebendigen. Es muß einen Weg
geben zu Lrlebnismöglichkeiten, die jedem Menschen erschließbar sind.
Iener Zustand, daß einzelne Bevölkerungsschichten ihre besondere, von den
andern gar nicht verstandene „Kunst" haben, ihr auf den Leib geschnitten,
war ein erschreckliches Symptom des Zerfalls der „Volksseele", wenn man
diesen Begriff setzen will für ein letztes Gemeinsames, das im Altertum
und wieder im Mittelalter zeitenweise alle Volksschichten über die un°
geheuersten sozialen Gegensätze hinweg verband. Wir werden die Volks-
seele zunächst nicht bekommen, im Gegenteil: die Formzertrümmerung zer-
reißt ja vollends die letzten Bindungen zwischen den längst entfremdeten
Schichten. Aber — sie bricht auch die Schranken vollends nieder, die so
starr aufgerichtet waren zwischen den verschiedenen Geistigkeiten. Sie er-
zeugt immer mehr eine Sehnsucht nach neuem Leben bei Räubern und
Beraubten, wobei zu bemerken ist, daß jeder beides zugleich ist gemäß
dem Schicksal alles Lebendigen. Nnd das ist das Ausschlaggebende.

Mögen also im einzelnen die nächstliegenden Motive zur Formzer-
brechung noch so verschiedener Art sein, letzten Endes kommt alle Zer-
trümmerungssehnsucht, ob sie sich nun als Stilwandel, Kultur- oder poli-
tische Krise offenbart, aus einer Ouelle: der Sehnsucht nach neuem
Leben. Und solang solche Sehnsucht, solcher Wille zum Leben noch mög-
lich ist, so lange ist ein Nntergang Europas noch nicht zu befürchten. Mag
sein, daß die politische und wirtschaftliche Führung künftighin andern Erd-
teilen zufällt, aber — hat nicht auch Italien erst Iahrhunderte nach der
 
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