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Kunstwart und Kulturwart — 33,3.1920

DOI Heft:
Heft 20 (Augustheft 1920)
DOI Artikel:
Haering, Theodor Lorenz: Hegel: zu seinem 150. Geburtstage
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https://doi.org/10.11588/diglit.14991#0417

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horchend, es dennoch versuche, mit kurzen Strichen, von Fragestellungen
mnserer heutigen Zeit ausgehend, anzudeuten, was Hegel eigentlich gewollt
hat. Vielleicht wird doch mancher dadnrch veranlaßt, diesen Gedanken, sei
es mit oder ohne Hegel selbst, weiter nachzugehen.

N

^xxie Gegenwart lehrt uns oder — könnte uns wenigstens lehren, daß wir
-2^das Wesen, die wahre Aatur eines historischen Vorgangs niemals ganz
erschöpfen, solange wir mitten drin stehen. Wir haben dann immer nur
Bruchstücke, Ausschnitte, „Abstraktionen" desselben (wie Hegel gerne sagt)
vor uns. Ieder uns gerade gegenwärtige Moment enthält zwar, recht
betrachtet, in der Tat immer eine Menge Vergangenheit und ebenso auch
Zukunft in sich, „begreift" beide (wie Hegel gerne sagt) „in sich", ist
ihr „Begriff"; aber er ist doch niemals das wahre ganze Wesen schon
selbst, von welchem uns vielmehr erst die Vollentwicklung Kunde und
so den „wahren Begriss" geben kann. So ist uns, nach Hegels Äber--
zeugung, das ganze Wesen, der „wahre Begriff" z. B. des Christentums
oder des Deutschtums oder irgendeiner solchen einheitlichen historischen
Kulturerscheinung, ebensowenig wie etwa das ganze Wesen, der „wahre
Begriff" eines Baums oder Tieres oder einer anderen solchen lebendigen
organischen, biologischen Einheit in einem isolierten, „abstrakten", be--
stimmten Zeit- oder Raumpunkt seiner Entwicklung gegeben, sondern erst
und nur im Ganzen seiner Entwicklung (Differenzierung) und seines
Wachstums. Anfang oder Mitte oder Resultat oder überhaupt jede
einzelne Stufe einer solchen Entwicklung sind immer nur abstrakte Teile,
„abstrakte Begriffe" solcher Größen, niemals ihr wahres Wesen, ihr „leben-
diger Begriff". Letzterer schließt vielmehr Anfang, Mitte und Ende mit
allen ihren Vermittelungen und Abergängen in sich und stellt sich eben,
seinem Wesen nach, nur in einem solchen ständigen lebendigen „Aber-
gehen" von einer Phase in die andere, in einem solchen steten Sichgleich-
bleiben und Anderswerden dar, oder, wie Hegel übertreibend für dieses
Anderswerden gerne sagt: in einem solchen steten „Ilmschlagen in sein
Gegenteil", „in seine Negation", in einer solchen „absoluten Aegativität".
In jeder späteren Phase sind die früheren, wie schon oben angedeutet, immer
in einem doppelten Sinne „aufgehoben" — d. h. einerseits irgendwie
„aufbewahrt" und andererseits doch auch wieder nicht mehr („explizite")
vorhanden.

An solchen Beispielen aus Geschichte und organischer Welt verstehen
wir vielleicht am besten — wenigstens von ferne — Hegels Lehre vom
„Begriff". Für ihn ist derselbe im wahren Sinne gerade nicht bloß,
wie für den gewöhnlichen Sprachgebrauch, jener oben genannte „abstrakte
Begrifs". Letzterer ermöglicht nur eine „Anatomie" des schon toten
„Lebens", d. h. das lebendige Wesen erfaßt er überhaupt nicht. Der
wahre Begriff ist nicht eine solche bloß abstrakte Betrachtnng des Lebens
bald von dieser, bald von jener Seite her, sondern sozusagen von allen
Seiten zugleich und aus der Fülle und dem Kern aller Entfaltungs-
weisen eines solchen Wesens heraus. Soll ein Begriff wirklich etwas
begreifen, so muß er von solcher ganz neuen Art sein.

Aber freilich —: gibt es denn solche Begriffe? And gibt es Worte
für sie? Läßt sich von einer so neuartigen Erkenntnisweise überhanpt
reden? In der herkömmlichen Begriffs- und Sprachbildung allerdings

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