194 LLLEELLLLLLLELL Peter Hamecher:
wir von Eugenie Grandet." Man sieht also
im Schaffensvorgang des Künstlers ein Ver-
drängen der Wirklichkeit durch ein Spiel der
Einbildungskraft, das sich vor dem innern
Auge des Schaffenden als eine zweite, höhere
Wirklichkeit vollzieht und dessen Ablauf er
ergriffen und miterlebend zuschaut, ohne selber
eingreifen zu können, noch zu dürfen. Es ist
eine Art des Hellsehens, des Wachträumens,
die in der Empfängnisstunde im Künstler
wirksam zu sein scheint. Balzac spricht dar-
über sehr aufschlußreich auf den ersten Seiten
der Novelle „Facino Cane".
Der Dichter erfaßt alles Geschehen nur in
einer übertragenen Bedeutung; so sind ihm
denn auch alle Dinge der sichtbaren Wirklichkeit
nur ein an sich gleichgültiges Material, in dem
er sein Erlebnis als Ausdruck zu bilden sucht.
„Der Dichter nennt die Dinge und meint
Gott." Das ist der eigentliche schöpferische
Formprozeß: die Durchdringung der Materie
mit Seelenstoff, mit dem Fluidum des Er-
lebnisses. Erst wenn ein Vorgang, eine Person
dem Dichter mit der ihn erregenden Idee so
zusammengewachsen ist, daß sie ihm zum Aus-
druck wird, hat sie für ihn zwingende Not-
wendigkeit, von der er nicht loskommt, „bis
das Schicksal sich erfüllt hat". Ich untersuche
nicht, wieweit das Welterlebnis eines Dichters
sich mit dem anderer Menschen deckt oder
welche Möglichkeit der Einfühlung es andern
bietet, ob es eng oder weit: das Wesentliche
ist, daß es vorhanden ist und den Stoff be-
lebt; denn hier liegt das Geheimnis der
„Poetisierung", das die Leistung zum Kunst-
werk, den Autor zum Dichter erhebt.
Von hier aus entscheidet sich das ganze
Problem der Modellbenutzung, soweit der
wirkliche Dichter in Frage kommt. Die ganze
Welt, Vergangenes und Gegenwärtiges, liegt
vor dem Dichter als Stoff, als Bildmaterial,
das darauf harrt, daß er es ergreife und
läutere, damit es rein werde zur Auferstehung
im Geiste. Der Stoff als solcher aber ist in
der Kunst bedeutungslos, stumm. Hebbel sagt
in einer Tagebuchnotiz: „Es ist doch Täuschung,
wenn man glaubt, daß Stoff an sich etwas
sei und dem gestaltenden Geist einen reinen
Gehalt entgegenbringe." Und Thomas Mann
äußert denselben Gedanken: „Alle Objektivi-
tät, alle Aneignung und Kolportage bezieht
sich — auf das Pittoreske, die Maske, die
Geste, die Äußerlichkeit, die sich als Charak-
teristikum, als Symbol darbietet. . . Nicht die
Gabe der Erfindung — die der Beseelung ist
es, welche den Dichter macht. Und ob er
nun eine überkommene Mär oder ein Stück
Wirklichkeit mit seinem Odem und Wesen
erfüllt: die Durchdringung und Erfüllung
mit dem, was des Dichters, macht den Stoff
zu seinem Eigentum, auf das, seiner innersten
Meinung nach, niemand die Hand legen darf."
Der dichterische Prozeß bedeutet immer ein
Umschmelzen, ein Umbilden, wenn es auch
noch so sehr scheint, als ob die zeichnende
Hand der Wirklichkeit mit der peinlichsten
Genauigkeit nachgegangen sei. Jean Paul
sagt: „Keinen wirklichen Vorgang kann der
Dichter — auch der komische — von der
Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste
Tag die Lebendigen, zu verwandeln für
Himmel und Hölle."
Im Dichter liegen unendliche Möglich-
keiten in Bereitschaft. Man möchte sagen:
jede Erfahrung wird im Innern aufgespei-
chert. Wird nun die Seele so stark von einem
Reiz erregt, daß sie der entstandenen psy-
chischen Gleichgewichtsstörung nicht Herr
werden kann, so sucht sich die dichterische
Erlebniskraft desselben zu bemächtigen und
dadurch, daß sie ihn gewissermaßen in die
Distanz eines Geschauten rückt, das Innere
zu entlasten. Elemente der angesammelten
Erfahrung schießen, durch die Erregung gemäß
ihrer Zugehörigkeit herbeigerufen, zusam-
men, und das Erlebnis ordnet sie seiner
Art und Färbung entsprechend zum Bilde, zum
Sinnbild. Es handelt sich nun darum, den
Ausdruck möglichst sinnfällig und erschöpfend
und durch alle Mittel der Darstellung: der
Komposition, der Zeichnung, der Farben-
gebung, der inneren Stimmung nach Kräften
konform zu gestalten. Um den darstellerischen
Endzweck zu erreichen, ist dem Dichter jedes
Mittel gerecht, das ihm dienlich erscheint.
Der eine versenkt sich in die Historie, der
andere geht zur Natur, der dritte sucht unter
Menschen, der vierte mag Anregung finden
in den Mären und Phantasien der Völker
oder in den künstlerischen Schöpfungen an-
derer. Welche Art von Urbildern der Dichter
benutzen wird und in welcher Art er sie ver-
wendet: das sind Fragen ganz persönlicher
Natur, Probleme des Sehens, der Stilisie-
rung usw. Dem einen genügt eine einzelne
Bewegung, damit seine Phantasie das Frag-
ment zum Bilde ergänze. Der andere ist
stärker an die Sichtbarkeit gebunden, an die
Beobachtung des Wirklichen. Von Ibsen
schreibt Walzel (Geistesleben des xvm. und
xix. Jahrhunderts): „Dieses starke, alle
Denkarbeit beim künstlerischen Schaffen über-
hallende Interesse an dem Menschen wird
auch bezeugt durch Nachrichten, die von Ge-
org Brandes, von den Herausgebern des
Nachlasses und von Roman Woerner über
andere Modelle Ibsens uns geschenkt wur-
den. Die Frauen, voran Nora, Ellida Man-
gel, Hedda Gabler, sind aus dem Leben ge-
schöpft, ebenso Hjalmar Ekdal, Eylert Löv-
borg und ihre Genossen. Ja, wenn Ibsen
sich selbst zum Modell nahm, benutzte er gern
noch weitere Modelle, um den Menschen
desto farbenreicher und lebendiger zu gestal-
ten. Er suchte zugleich seine eignen Wesens-
züge an anderen zu studieren, um die Wahr-
heit und Echtheit seiner Beobachtungen fester
zu begründen. So bei Brand, bei Stock-
mann, bei Rosmer." Das Nachwort zu den
Nachlaßbänden bringt genügendes Material,
um die Jbsensche Arbeitsmethode zu beleuch-
ten. Oft begnügt er sich nicht mit einem
Modell. Er nimmt, wie beim „Volksfeind",
Züge von mehreren. Aber wie er, der kluge
wir von Eugenie Grandet." Man sieht also
im Schaffensvorgang des Künstlers ein Ver-
drängen der Wirklichkeit durch ein Spiel der
Einbildungskraft, das sich vor dem innern
Auge des Schaffenden als eine zweite, höhere
Wirklichkeit vollzieht und dessen Ablauf er
ergriffen und miterlebend zuschaut, ohne selber
eingreifen zu können, noch zu dürfen. Es ist
eine Art des Hellsehens, des Wachträumens,
die in der Empfängnisstunde im Künstler
wirksam zu sein scheint. Balzac spricht dar-
über sehr aufschlußreich auf den ersten Seiten
der Novelle „Facino Cane".
Der Dichter erfaßt alles Geschehen nur in
einer übertragenen Bedeutung; so sind ihm
denn auch alle Dinge der sichtbaren Wirklichkeit
nur ein an sich gleichgültiges Material, in dem
er sein Erlebnis als Ausdruck zu bilden sucht.
„Der Dichter nennt die Dinge und meint
Gott." Das ist der eigentliche schöpferische
Formprozeß: die Durchdringung der Materie
mit Seelenstoff, mit dem Fluidum des Er-
lebnisses. Erst wenn ein Vorgang, eine Person
dem Dichter mit der ihn erregenden Idee so
zusammengewachsen ist, daß sie ihm zum Aus-
druck wird, hat sie für ihn zwingende Not-
wendigkeit, von der er nicht loskommt, „bis
das Schicksal sich erfüllt hat". Ich untersuche
nicht, wieweit das Welterlebnis eines Dichters
sich mit dem anderer Menschen deckt oder
welche Möglichkeit der Einfühlung es andern
bietet, ob es eng oder weit: das Wesentliche
ist, daß es vorhanden ist und den Stoff be-
lebt; denn hier liegt das Geheimnis der
„Poetisierung", das die Leistung zum Kunst-
werk, den Autor zum Dichter erhebt.
Von hier aus entscheidet sich das ganze
Problem der Modellbenutzung, soweit der
wirkliche Dichter in Frage kommt. Die ganze
Welt, Vergangenes und Gegenwärtiges, liegt
vor dem Dichter als Stoff, als Bildmaterial,
das darauf harrt, daß er es ergreife und
läutere, damit es rein werde zur Auferstehung
im Geiste. Der Stoff als solcher aber ist in
der Kunst bedeutungslos, stumm. Hebbel sagt
in einer Tagebuchnotiz: „Es ist doch Täuschung,
wenn man glaubt, daß Stoff an sich etwas
sei und dem gestaltenden Geist einen reinen
Gehalt entgegenbringe." Und Thomas Mann
äußert denselben Gedanken: „Alle Objektivi-
tät, alle Aneignung und Kolportage bezieht
sich — auf das Pittoreske, die Maske, die
Geste, die Äußerlichkeit, die sich als Charak-
teristikum, als Symbol darbietet. . . Nicht die
Gabe der Erfindung — die der Beseelung ist
es, welche den Dichter macht. Und ob er
nun eine überkommene Mär oder ein Stück
Wirklichkeit mit seinem Odem und Wesen
erfüllt: die Durchdringung und Erfüllung
mit dem, was des Dichters, macht den Stoff
zu seinem Eigentum, auf das, seiner innersten
Meinung nach, niemand die Hand legen darf."
Der dichterische Prozeß bedeutet immer ein
Umschmelzen, ein Umbilden, wenn es auch
noch so sehr scheint, als ob die zeichnende
Hand der Wirklichkeit mit der peinlichsten
Genauigkeit nachgegangen sei. Jean Paul
sagt: „Keinen wirklichen Vorgang kann der
Dichter — auch der komische — von der
Natur annehmen, ohne ihn, wie der Jüngste
Tag die Lebendigen, zu verwandeln für
Himmel und Hölle."
Im Dichter liegen unendliche Möglich-
keiten in Bereitschaft. Man möchte sagen:
jede Erfahrung wird im Innern aufgespei-
chert. Wird nun die Seele so stark von einem
Reiz erregt, daß sie der entstandenen psy-
chischen Gleichgewichtsstörung nicht Herr
werden kann, so sucht sich die dichterische
Erlebniskraft desselben zu bemächtigen und
dadurch, daß sie ihn gewissermaßen in die
Distanz eines Geschauten rückt, das Innere
zu entlasten. Elemente der angesammelten
Erfahrung schießen, durch die Erregung gemäß
ihrer Zugehörigkeit herbeigerufen, zusam-
men, und das Erlebnis ordnet sie seiner
Art und Färbung entsprechend zum Bilde, zum
Sinnbild. Es handelt sich nun darum, den
Ausdruck möglichst sinnfällig und erschöpfend
und durch alle Mittel der Darstellung: der
Komposition, der Zeichnung, der Farben-
gebung, der inneren Stimmung nach Kräften
konform zu gestalten. Um den darstellerischen
Endzweck zu erreichen, ist dem Dichter jedes
Mittel gerecht, das ihm dienlich erscheint.
Der eine versenkt sich in die Historie, der
andere geht zur Natur, der dritte sucht unter
Menschen, der vierte mag Anregung finden
in den Mären und Phantasien der Völker
oder in den künstlerischen Schöpfungen an-
derer. Welche Art von Urbildern der Dichter
benutzen wird und in welcher Art er sie ver-
wendet: das sind Fragen ganz persönlicher
Natur, Probleme des Sehens, der Stilisie-
rung usw. Dem einen genügt eine einzelne
Bewegung, damit seine Phantasie das Frag-
ment zum Bilde ergänze. Der andere ist
stärker an die Sichtbarkeit gebunden, an die
Beobachtung des Wirklichen. Von Ibsen
schreibt Walzel (Geistesleben des xvm. und
xix. Jahrhunderts): „Dieses starke, alle
Denkarbeit beim künstlerischen Schaffen über-
hallende Interesse an dem Menschen wird
auch bezeugt durch Nachrichten, die von Ge-
org Brandes, von den Herausgebern des
Nachlasses und von Roman Woerner über
andere Modelle Ibsens uns geschenkt wur-
den. Die Frauen, voran Nora, Ellida Man-
gel, Hedda Gabler, sind aus dem Leben ge-
schöpft, ebenso Hjalmar Ekdal, Eylert Löv-
borg und ihre Genossen. Ja, wenn Ibsen
sich selbst zum Modell nahm, benutzte er gern
noch weitere Modelle, um den Menschen
desto farbenreicher und lebendiger zu gestal-
ten. Er suchte zugleich seine eignen Wesens-
züge an anderen zu studieren, um die Wahr-
heit und Echtheit seiner Beobachtungen fester
zu begründen. So bei Brand, bei Stock-
mann, bei Rosmer." Das Nachwort zu den
Nachlaßbänden bringt genügendes Material,
um die Jbsensche Arbeitsmethode zu beleuch-
ten. Oft begnügt er sich nicht mit einem
Modell. Er nimmt, wie beim „Volksfeind",
Züge von mehreren. Aber wie er, der kluge