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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 2 (Oktober 1913)
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Osborn, Max: Tischbein
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0256

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200 Or. MaX Osborn: Tischbein

erschöpfende und bewundernswerte Mate-
rialsammlung nur langsam fortschreiten
kann, im Lauf der Jahre bis zum Buch-
staben T gediehen sein wird.
Achtzehn „Tischbeine" ! Einer von ihnen
wird als Architekt geführt — er baute die
Große Oper in St. Petersburg —, einer
als Bildhauer, einer als Kupferstecher.
Die übrigen ausnahmslos als Maler. Sie
stammen aus Mitteldeutschland, aus dem
kurhessischen Orte Haina, und Cassel galt
den meisten als künstlerischer Ausgangs-
punkt. Doch in allen lebte ein unruhcvolles
Wandererblut, das sie durch Deutschland
und Europa trieb; freilich nicht nur weil sie
sehen, lernen, genießen und sich innerlich
bereichern wollten, sondern vor allem weil
sie als rechte Bekenner des malerischen
Handwerks ihr Gewerbe vielfach „im Um-
herziehen" üben mußten. Der ganze Segen
ihrer Begabungen aber ward innerhalb
eines einzigen Jahrhunderts über Deutsch-
land gebreitet. Nach 1740 etwa sehen wir
in Haina die fünf Brüder Johann Conrad
Tischbein, den vorhinerwähntenBildhauer
Johann Valentin d. Ä., Johann Heinrich
d.Ä., Johann Jakob und Anton Wilhelm,
die eigentlichen Begründer der Dynastie,
auftreten.
Einer von ihnen, Johann Hein-
rich Tischbein — später zum Unterschied
eines gleichnamigen Neffen (eines Sohnes
von Johann Conrad) als der Ältere
seines Namens bezeichnet — stellt bereits
eine der drei Säulen dar, auf denen der
Ruhm der Familie beruht. Er sollte dies
Amt mit zweien seiner anderen Neffen tei-
len: mit Johann Friedrich August
Tischbein, einem Sohne des Johann
Valentin, der selbst, 1715 geboren, 1767
als Hofmaler in Hildburghausen starb,
und mit Johann Heinrich Wilhelm
Tischbein, einem Sohne Johann Con-
rads, der nach weiten Weltfahrten wie-
der im heimatlichen Haina landete und
dort anno 1778 die Augen schloß. Diese
drei sind es, an die man heute fast allein
denkt, wenn der Name Tischbein aus-
gesprochen wird. Jahrzehnte hindurch aber
lagen die Dinge noch anders, da man beim
Klang des Namens eigentlich nur an einen
seiner Vertreter dachte: an den „Neapo-
litaner" Johann Heinrich Wilhelm, kürzer
Wilhelm Tischbein genannt, den Schöpfer

des berühmten Bildnisses im Frankfurter
Städelschen Institut, das Goethe in Italien
zwischen antiken Trümmern darstellt.
Dies bekannteste Werk Wilhelms führt
uns zugleich zu den Gründen der Bevor-
zugung, die er genoß. Die Zeit, die hin-
ter uns liegt, war vor allem literarisch ge-
stimmt und suchte sich auch der bildenden
Kunst und ihren Anhängern am liebsten
vom literarischen Standpunkt aus zu nähern.
So kommt es, daß wir die gesamte Ge-
schichte der deutschen Malerei von 1750
an neu aufbauen müssen. Die unvergeß-
liche Jahrhundertausstellung von 1906
schoß die erste Bresche in die Mauer der
überlieferten falschen Vorurteile. Und zu
der Neusichtung des Materials, die seit-
dem einsetzte, gehört die große Tischbein-
revision, herbeigeführtnamentlich durch die
Leipziger Porträtausstellung des Sommers
1912.
Die Ergebnisse dieser Revision beziehen
sich auf zwei Hauptpunkte. Zunächst auf
die richtige Erkenntnis des Lebenswerkes
von Joh. Friedrich August Tischbein, der
bisher völlig vernachlässigt geblieben war
und von dem sich nun zum allgemeinen
Staunen herausstellte, daß ihm unter allen
Künstlern seines Namens weitaus der erste
Platz gebührt. Dann aber auch auf die
sinnvollere Abwägung der Verdienste seiner
beiden Rivalen.
Doch Joh. Friedrich Augusts Stern
stieg noch höher empor. Nicht nur den
vorzüglichsten der Tischbeine: einen der
besten deutschen Maler seines ganzen Jahr-
hunderts erblicken wir heute in ihm, einen
der feinfühligsten Förderer der allgemeinen
Entwicklung und der bedeutendsten Vor-
ahner kommender Kunstgedanken. Er offen-
bart sich als einer von den Führern zu
neuen Zielen, die damals auftraten und
den Betrieb der Malerei auf eine vordem
ungeahnte Basis stellten. Es handelte sich
um das große Problem: wie kommen wir
aus dem Rokoko heraus? Aus dieser ver-
zierten, geschminkten, spielerischen Welt?
Aber wohlgemerkt: ohne dabei das Tüch-
tige und Gesunde zu verlieren, das in ihrem
künstlerischen Handwerk steckt! Die Künstler,
die rechte Zunftüberlieferungen in sich tru-
gen und sich nicht den literarisch-klassizisti-
schen Theoretikern mit Haut und Haaren
verschrieben hatten, fühlten instinktiv, daß
 
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