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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 2 (Oktober 1913)
DOI Artikel:
Hart, Hans: Wunderkinder [2]: Roman : (Fortsetzung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0347

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Wunderkinder

Sebastian und sagte: „Bitte mich jetzt um
Verzeihung!"
„Ach, Vater, das kann ich nicht. Schau,
Mutter und du, ihr werdet alt. Und die
vielen Geschwister — Wenn ich da bei-
steuern kann, ist es doch auch etwas."
„Dein Sündengeld brauchen wir nicht.
Ha! Giacomo, mein Erstgeborener, die erste
Hoffnung meiner Ehe, will vor die Hunde
gehen! Ich träumte, daß du ein großer
Musiker werden solltest, ein Cellist viel-
leicht."
„Dann hast du falsch geträumt."
Alles trug Johann Sebastian mit philo-
sophischem Gleichmut. Nur seine Träume
waren ihm heilig. An die durfte ihm nie-
mand rühren. „Schweig!" donnerteerund
ließ den Bogen mit voller Wucht auf Gia-
comos Arm sausen.
Der Junge ward totenblaß. „Vater!
Ich sage dir, das wird nicht gut werden!"
„Hinaus!" Und Meister Williguth
packte seinen Ältesten um den Leib und
suchte ihn zur Tür zu drängen. Vorsichtig,
wie eine Mutter ihr Kind, umfaßte jetzt
auch Giacomo seinen Erzeuger. „Gott
helfe mir! Ich kann nicht anders!" stam-
melte er verzweifelt.
Aber in Vater Williguth erwachte das
wilde Sachsenblut seiner Vorfahren, als er
des Sohnes eiserne Pranken spürte. Sinn-
los vor Zorn begann er mit Giacomo zu
ringen. Der weinte laut vor Herzeleid und
verteidigte sich standhaft, aber sehr be-
scheiden, um dem Alten ja nicht wehzutun.
Schließlich hatte er, fast wider Willen, den
Vater auf der Matte. Ein blitzschneller
Untergriff. Der fette Riese taumelte. Gia-
como schluchzte: „Hier liegt ein Strohsack,
lieber Vater. Gib acht! Bitte, so!" Und
legte Meister Williguth fein säuberlich auf
beide Schultern. Keuchend lag Johann
Sebastian in der Gewalt seines Buben.
Giacomo kniete nieder und heulte: „Ver-
zeih mir, Vater! Habe ich dir wehe-
getan?"
„Wer bist du, daß du wider den Stachel
löckest?" murmelte Johann Sebastian noch
immer etwas außer Atem und saß würde-
voll auf dem alten Strohsack. Aber der
Zorn wich von ihm. Er freute sich der
Reckenkraft seines Jungen. „Wenn es sein
muß, lieber Vater, verstoße mich jetzt! Ich
will lieber gleich fort!" Da fuhr ein Lachen,

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gewaltig und laut durch den Musiksaal,
daß die Fensterscheiben klirrten. Die Bibel
rettete den braven Giacomo. „Ein Esel
war ich!" schrie der Vater, „Giacomo hab'
ich dich genannt, weil ich Großes von dir
erwartete im Dienste der Musik. Jakob
aber rang mit dem Engel des Herrn und
besiegte ihn. Blind war ich und wußte die
Schrift nicht zu deuten. Du bist Jakob
Williguth." Und schmetterte den Jubel-
ruf hinaus: „Jetzt habe ich doch ein Wun-
derkind!"
So entschied sich das Schicksal des Gia-
como Williguth.
Schon in den nächsten Tagen geriet er
in seines Trainers Hand, der ihm Muskeln
und Sehnen hartschmiedete nach den alt-
ehrwürdigen Regeln der griechisch - römi-
schen Ringkunst. Gundl stickte dienstbe-
flissen hübsche Monogramme, riesengroße,
kunstvoll verschlungene G. W., die Gia-
comos schwarze Trikots zieren sollten. Denn
er hielt Schwarz für feiner und zugleich
auch effektvoller als alle anderen Farben.
Daneben übte sich Gundl fleißig im Klavier-
spiel, damit sie im Notfall, wenn Frau
Lisbeth aus irgendeinem Grund dies nicht
imstande wäre, Karl Maria begleiten
könnte. Ihre Backfischfülle schwand in die-
sem Sommer dahin, ein feines, ernstes
Frauengesicht schälte sich heraus, klug und
treu, daß Karl Maria oft erstaunt nach der
alten, dummen Gundl suchte. Ihr Leib
aber ward groß und stark, daß sie eine
prachtvolle Walküre dargestellt hätte, wenn
ihre Stimme nicht gar so armselig und
ohne Schwung gewesen wäre. Aber sie
ließ nicht nach und blieb ihren Gesang-
stunden treu, in der schweren Beharrlich-
keit ihrer jungen Kraft. Von den heißen
Kämpfen ihrer einsamen Nächte wußte ja
niemand. Karl Maria aber lebte hart und
kalt in seinem Ehrgeiz und ging ahnungs-
los an ihrer Liebe vorüber.
Zunächst zog Giacomo Williguth aus
dem „Blauen Herrgott".
Da standen alle diese gutherzigen Nie-
sen um den scheidenden Sohn und Bruder,
in wehmütigem Glück, daß diesmal ein
Siegesgewisser die Kinderschuhe hinter sich
warf. Der dicke Impresario Lewis, der
den jungen Recken selbst abholte, riß ver-
wundert die runden Glotzaugen auf, als
der Abschiedsschmerz derWilliguths rings
 
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