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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 3 (November 1913)
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Hoffensthal, Hans von: Marion Flora [3]
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0394

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322 Hans von Hoffensthal:

das Moos und strampelte mit den kurzen,
dicken Beinen, legte sich dann auf die Seite,
rollte sich um und fing nun wie ein regel-
rechtes Tier an, auf allen vieren zu trollen
und zu trotten, erst einmal um einen Baum
herum und dann ein paar Tritte zu einer
kleinen Mulde, in der ein bißchen Moos
und Wasser war, und hier machte es die
erste Rast und begann schlürfend und an-
dächtig zu trinken.
Was ging in diese rote Schnauze alles
hinein! Welcher Durst und — hier prüfte
der Rabe noch einmal ein bißchen die
Flügel, man konnte wirklich nicht wissen
— welcher Appetit! Nun, Gnade dem, der
heute keineFlügel und dazu dasUnglückhat,
dem wolligen Zottel zu begegnen. Aber nun
— der Rabe fühlte sich unendlich darüber er-
haben — nun fraß das Wollknäul junges
Gras und nahm ein paar vertrocknete hol-
zig gewordene Schwämme mit und schälte
Zweige, indem es sie mitden Pranken in sein
Maul bog und die saftige Rinde lutschte und
abbiß. Jetzt erst schien es schlüssig, sich einen
soliden Fleischgang zu holen, prustete be-
denklich, sah den Raben oben nicht eben
ohne Interesse an, hob sich (jetzt heißt es
achtgeben!) an dem Föhrenstamm zu seiner
ganzen recht respektablen Höhe empor,
grunzte mißgestimmt, ließ sich wieder be-
dächtig auf alle viere nieder und lief in
einem gemächlichen, nicht zu eiligen Trab
durch den Wald. Eine Weile hockte der
Rabe noch und sah sich noch einmal ängst-
lich um. Dann flog er in der anderen Rich-
tung eilig davon, die sonderbare Botschaft
allen seinen Bekannten zu bringen.
Der Toni Wunderer war in der Zeit
nicht im Lande. Und wäre er am Ritten
gewesen, ehe er die Spur des Braunen ge-
funden hätte, war der in langen, fleißigen
Tagmärschen wieder drüben inderSchweiz.
R W W
Und es ward Mai.
Längs der Zäune, die von Haus zu
Haus liefen, blühten die Kirschen, da und
dort auch schon ein früher Apfelbaum,
rosig und froh, und an den Hecken, am
schönsten an der, die zur Kirche hinaufzog,
duftete der Flieder. Die ganze Luft war
von dem süßen Geruch erfüllt, von Flieder-
blüten und Honig in den weißen Kirschen,
von Hellen Orchideenkerzen, die rings in
den Wäldern brannten, und in diesen Duft

mengte sich der Atem der jungen Saaten,
die weich wie grüne Samt- und Seiden-
teppiche, vom Wiesenrain umkränzt, in
ihrem zagen Schmucke standen.
Was für ein fröhliches, keckes Gelb kam
überall in das Grün der Wiesen, da und
dort wohl auch schon ein feines Blau, das
Himmelblau der Vergißmeinnicht oder die
dunklere Farbe von Skabiosen, Ehrenpreis
und blauer Akelei.
Dicht hinter dem Florahause, auf dem
kleinen Anger, durch den der Steig zum
Schluff führt, war wieder alles weiß, ein
Teppich von Wiesenschaumkraut war da
ausgebreitet, und gegen diese Helle Fläche
hoben sich kleine dunkle Zirben ganz selt-
sam ab, so wie kleine schwarze Wolken von
einem Hellen, blanken Himmel.
Vor dem Florahause, dort wo im ersten
reifen Sommer die vielen Pechnelken stehen,
ist ein Gewimmel von Margueriten, Dotter-
blumen und roten Federblüten, so bunt,
so dicht durcheinander, daß auch ein drei-
zehnmal kluger Professor mit der schärfsten
Brille davorstehen und zusehen mag und
merkt es doch nicht, wie kunterbunt und
gegen alle Ordnung von strengen Gesetzen
die Vlumengesellschaft sich unterhält.
Gegen Abend freilich lassen alle diese
munteren Kinderblumen ihre Köpfchen
hängen, schließen süße Mäulchen, frohe
blinkende Augen, und wenn die Dämmerung
dichter und dichter aus den Wäldern auf
die Häuser zukommt, ist bald nichts mehr
von der Blumenwiese farbigen Einzeleitel-
keiten zu sehen.
Ein Dutsch hockt oben in der Linde
und tutet ganz einförmig sein melancholi-
sches tiu-tiu; aus der Kirchenpappel, in der
ein anderer sitzt, kommt dieselbe traurige
Weise, und rückwärts im Weiherwald ist
noch so ein Griesgramvogel postiert, schreit
Heller und eifriger als alle anderen, bringt
es aber auch zu keinem anderen Lied als
dem, das er und alle musikalisch schlecht
begabten Leute seiner Art eben gelernt.
Da und dort kommt in dieser Stunde
aus einem Hause ein kleiner Lichtschein:
oben bei der Kirche ein roter, vom Lämp-
chen her, das vor dem Altar Tag und
Nacht brennt; aus dem Widum ein helleres,
freundlicheres Licht—es ist das Zimmer, in
dem der alte Pfarrer wohnt; vom Schul-
haus ein gelbes — es kommt aus der
 
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