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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

DOI issue:
Heft 3 (November 1913)
DOI article:
Hoffensthal, Hans von: Marion Flora [3]: Roman : (Fortsetzung)
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0428

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350 Melanie Ebhardt: Herbstbild


Kapitel zu Ende gelesen sein muß, so daß
keine Hand auf die Dauer entbehrlich
wäre. Aber, du meine Güte, es gibt mitten
in einem jeden Hohlsaum und mitten in
dem klügsten Buche Stellen, über die man
nicht so ohne weiteres hinwegkommt. Ja,
Stellen, wie geschaffen, Arbeit und Lektüre
ein wenig beiseite zu legen, Arbeit links,
Buch rechts, — sich gerade zu setzen und
so, je nun: da sind gegenüber zwei Hände,
schmale, liebe Hände, die so wie Kinder
aussehen, als langweilten sie sich und
wollten gestreichelt werden. Und da sind
gegenüber zwei große, schöne Augen, wie
zwei Märchenbrunnen tief, in die man
hineinsehen muß. Denn ganz tief drinnen
leuchtet ein fröhlich Wunderding auf. Und
da ist geradeaus ein roter Mund, groß,
voll — findet ihr denn einen sehr kleinen
Mund schön? — sehr weich, fast so —
ach, besser keinen Vergleich, da auf der
ganzen Gotteserde Schöneres und Süßeres
als ein Jungfrauenmund nicht ist.
Ach, wißt ihr übrigens die Geschichte
von Berta Nebeling, der Frau eines jungen
Jägers. War eine kleine, wunderhübsche
Frau mit Augen, daß alle Männer un-
ruhig wurden, und einem Mund, ja, das
war an ihr das Schönste. Aber auch das
Schönste weit herum im Land. Doch sie
gab diesen Mund, so selig er war, keinem
anderen zum Küssen als ihrem Mann. —
Das war natürlich dem von den Abge-
wiesenen nicht recht und auch nicht jenem.
Und einer, ein gar Schlauer und Schlimm-
verliebter, wandte einen ganzen, langen
Abend darauf, um doch noch einen Kuß
von diesen Lippen zu bekommen. Er bat
zuerst mit geraden Worten. Aber da lachte
sie ihn aus und sagte: „So wahr ich da
sitze, nie und nimmermehr." Da legte er

sich aufs Schmeicheln und Schöntun, nahm
einen Becher mit Wein und bot ihn ihr:
„Küsset den Rand vom Becher, und ich
will Euren Kuß aus dem Wein trinken."
„Nein, nein." Da zog er einen Ring vom
Finger und reichte ihn ihr hin: „Küsset
den, Schönste, ich will den Kuß dann an
dem Gold wiederfinden." „Nein, nein,"
sagte sie und lachte. „Aber da Ihr so herz-
lich bettelt, will ich Euch eins gewähren.
Seid morgen zu der Zeit im kleinen Wald.
Dahin werd' ich Euch etwas schicken, was
ich geküßt hab', Ihr mögt es wiederküssen."
Die Freude! Der Schlimmverliebte
war schon eine Stunde vor der Zeit am
Ort. Und wartete. Und während er so
wartete, ein bißchen ungeduldig — man
kann es ihm verzeihen —, da kam so von
ungefähr einer daher. Ein Gewehr auf
der Schulter, nun ja, wie so ein Jäger
aussieht. Und grüßte freundlich: „Auch
hier? Schöner Abend heute." — „Ach, ein
so wunderschöner Abend, aber schon spät—"
Nun wollte er doch heim.
Von Zeit zu Zeit kam noch ein später
Schritt an dem Florahaus vorüber, der
alte Mesner, der den Abendsegen läutete
und in der Kirche das ewige Licht nachsah.
Oder ein altes Weiblein, die Burgl vom
Angler oder die Creszenz von der Wal-
Hütt, tscherfelte vorüber, um vor dem Altar
noch ein kleines Gesatzel lang zu hocken.
Dann, so gegen sieben, kam Nanne, das
Mädchen, und deckte den Tisch.
An so manchem Abend in dieser Winter-
zeit erlosch das Licht in allen Zimmern
schon bald nach zehn. Die Nanne, ein
Bauernkind von Oberinn, kniete noch eins
Weile vor ihrem Bette hin und sagte halb-
laut, mit gefalteten roten Händen, ihr
Gebet. (Schluß folgt)

Herbstbild
Und Jesus Christus hing im kühlen Regen,
Der ihm die Wunden, die ihn brannten, wusch.
Die gelben Blätter sanken auf ihn nieder.
An seiner Krone Dornen sich verfangend,
Auf seine bleiche Schulter ließ sich matt
Die Amsel nieder, die verflogene,
Die nestlos irrende, und klagte ihm
Ihr Frühlingssehnen langgezogen vor.
Und Jesus Christus hing im kühlen Regen
Und schwieg und schwieg und wußte keinen Trost.
Melanie Ebhardt
 
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