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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Heft 4 (Dezember 1913)
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Delle Grazie, Marie Eugenie: Frau Gertys Saison, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0676

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866 M. E. delle Grazie:

unterzugehen schien wie in einem Traum,
der nicht von dieser Welt war.
Seine blassen Hände falteten sich. Die
stummen Lippen begannen sich langsam zu
bewegen —
„Maria, sei gegrüßet,
Du lichter Morgenstern —"
Da sank er schon wieder in die Kissen
zurück, müde, hilflos, erschöpft. Aber das
Lächeln, mit dem er ihr Bild in sich ge-
trunken, bl. b auf seinem Antlitz stehen.
Sie selbst nahm er in seine Fieberträume
hinüber — schön, verklärt. Die Madonna,
deren Bild ihm auch die Untreue der Ge-
liebten nicht entweiht hatte.
Und plötzlich fühlte Frau Gerty, wie
etwas in ihren Augen zu brennen begann,
dann langsam, langsam an ihren Wangen
niederrieselte.
War es möglich, daß man so selige, so
närrische Tränen weinen konnte, um —
nichts?
Als die Zolleinnehmerswitwe wieder
zurückkam, schoß Frau Gerty mit einigen
freundlichen Worten zur Türe hinaus.
Drinnen aber lag der Kranke und lächelte,
wie die Zolleinnehmerswitwe noch niemals
einen Menschen lächeln gesehen — und
schlief ruhig und tief. —
Ja, wenn das Körbchen nicht gewesen
wäre und Frau Gertys trotz aller Eile ge-
gebenes Versprechen, morgen wiederzu-
kommen !
So ließ die ehrsame Witwe ihre Gedanken
bloß in das Wasser hineinfallen, in dem sie
das neue Pulver anrührte.
W R R
In dieser Nacht fand Frau Gerty keinen
Schlaf.
,Weil ich nun schon zwei Tage nicht an
der Luft war/tröstete sie sich. Denn wenn
Frau Gerty auch zuweilen ihre „Wallun-
gen" hatte, wie Fräulein Marianne pikiert
zu sagen pflegte, so war doch gerade die
Schlaflosigkeit keines der nervösen Übel,
von denen Frau Gerty heimgesucht wurde.
Diesmal aber gab es eine ganze ver-
lorene Nacht. Stunde um Stunde hörte
die schöne Frau in ihrem spitzenüberriesel-
ten Bette schlagen. Immer wieder knipste
sie das Licht auf, warf ein paar Blicke in
die frivole „Gyp", drehte wieder ab und
versuchte es aufs neue. Aber auch die Li-
teratur versagte. Wie lang so eine Nacht

werden konnte und — wie bedrohlich ihre
Stille! Hätte sie sonst immer wieder an
den Kranken denken müssen? Wie es ihm
jetzt wohl gehen mochte? Ob das Fieber
wieder angestiegen war, wie immer um
diese Zeit? Wenn es die Zolleinnehmers-
witwe überhaupt verstand, mit einem
Fieberthermometer umzugehen.
,Wie gut könnt' ich jetzt drüben sein/
dachte sie. ,Die Leute? Pah! Die Mari-
anne hätte dann auch nicht geschlafen/
kicherte sie belustigt in ihr Kissen hinein.
Sie wußte nicht, warum ihr das preziöse
Wesen ihrer Jungfer plötzlich so komisch
vorkam.
,Schon um sie zu bluffen, hält'ich es tun
sollen/ schoß es ihr durch den Sinn. ,Sie
meint wohl, ich soll jetzt zeitlebens schwarz
gehen, jede Woche den Friedhof besuchen
und so rasch als möglich mein Testament
machen. . . Wird sie schauen, wenn man
mir die Toiletten für die neue Saison
liefert /
Die neue Saison — das war es! Die
große Stunde, die auch Frau GertysNachen
wieder in die offene See des Lebens lotsen
sollte. Irgendeinem Glück entgegen, das
da irgendwo auf eine warten mußte, die
so schön war wie Frau Gerty — und eine
ganze Million besaß.
Meinen Schmuck nicht mitgerechnet/
dachte sie befriedigt.
Ihre erste Wahl hatte die Vernunft be-
schlossen. Die zweite wollte sie ganz in die
Hände der Liebe legen.
Der Liebe, die so schön war, so einzig
sein mußte, wie . . .
Ja, da stand sie wieder vor dem Bett
des Fiebernden drüben. Als hätten all
ihre Gedanken kein anderes Zuhause
mehr.
Nein. Dem alten Gutjahr wär' es nie
eingefallen, vor ihrer Schönheit die Hände
zu falten. Der hatte von Anfang gewußt,
was er gekauft und bezahlt hatte. Bei
Heller und Pfennig voraus berechnet, was
eine so schöne, junge Frau täglich kosten
würde.
Und er?
,Elf Jahre hat er mich gekostet/ Ihre
Augen wurden feucht. .Elf Jahre und
meine ganze Jugend. Die Marianne
glaubt aber noch heute, daß sie hinter mir
her sein muß, wie Monsieur/
 
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