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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Giedion, Sigfried: Sitzgestaltung
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0084

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VON S. GIEDION

SITZGESTALTUNG

Stuttgart hat Glück mit seinen Ausstellungen, denn
es behandelt die Probleme, die in der Zeit liegen,
mit richtigem Instinkt. Der Gedanke, der der Werk-
bundausstellung von 1927 zugrunde lag: Nicht
Schaustellung, sondern Eingliederung ins Leben,
erwies sich als so fruchtbar, daß man heute sogar
in Paris daran denkt, gelegentlich der Verwirk-
lichung des »Loi Loucheur« eine Veranstaltung nach
dem Muster von Stuttgart zu machen.
Die bescheidenere Ausstellung »Der Stuhl«, die
Adolf Schneck1 im Auftrag des Württembergi-
1 Adolf G. Schneck, der an der Kunstgewerbeschule
Stuttgart selbst systematische Versuche über funktio-
nelle Grundlagen des Stuhles machte, ist der berufene
Veranstalter. Er gehörte der sogenannten »Werkstätten-
bewegung < an, aber er schlug sich nicht auf die Seiten
der Bruno Paul, Breuhaus oder der Wiener Luxusarchi-
tekten: Man verdankt Schneck gerade die billigen Typen-
serien der »deutschen Werkstätten«. Auf der Stutt-
garter Werkbundsiedlung fiel sein Haus durch eine nach-
ahmenswerte Anordnung: Schlafzimmer, Bad, Luftbad
(Terrasse) auf. Adolf G. Schneck hat die Resultate
der Ausstellung in dem Buche »DER STUHL«, Verlag
Julius Hoffmann, Stuttgart, 1928, als Band 4 der BAU-
BÜCHER behandelt.
Wie wir nachträglich erfahren, wird, wenigstens zum
Teil, das Material der Ausstellung »DER STUHL« auch
an anderen Orten zu sehen sein. Erste Station: FRANK-
FURT AM MAIN.


Abb. 1 Englisches Standartmodell
Der Sitz ist durchgebogen und ebenso wie die Rüclt-
lehne dem Körper angepaßt. Bequemlichkeit wird
mit einem Minimum an Mitteln erreicht.

sehen Landesgewerbe-Amts in Stuttgart veranstal-
tete, ist symptomatisch ebenfalls von großer Be-
deutung. Sie gibt den Weg an, wie Ausstellungen
dieser Art in Zukunft zu machen sein werden.
Sie räumt endlich einmal mit dem Unfug auf:
»Bitte die Gegenstände nicht zu berühren« (das
Lächerlichste auf diesem Gebiet konnte man die-
sen Sommer auf der Münchner Ausstellung »Heim
und Technik« erleben, wo der Beschauer nicht ein-
mal die Zimmer betreten durfte und sie nur von
einer Brücke aus in Vogelperspektive betrachten
konnte!). Die Stühle der Stuttgarter Ausstellung
— vom Chrppendale-Modell bis zum Metallröhren-
stuhl — sind zur Benützung da! Die Ausstellung
wirkt erzieherisch, da sie endlich einmal das
Publikum lehrt, auf die Punktion einer Sache
zu achten. Das Publikum ist nicht mehr genötigt,
aus Langeweile ästhetische Urteile zu fällen. Die
Ausstellung ist so angeordnet, daß das Publikum
positiv mitarbeiten kann, denn das Publikum ist
durchaus Lachmann, wenn man es fragt, ob es in
einem Stuhl bequem oder unbequem sitze. Und
darüber hinaus gelangt es fast von selbst auf die
Lragestellung: Woran liegt es, daß ein Stuhl be-
quem ist? Was ist fehlerhaft an ihm? An welchen
Stellen muß er verbessert werden? Womit sind wir
heute zufrieden? Was ist heute noch mangelhaft?
Diese ganze Lragerichtung lenkt den Beschauer


Abb. 2 M. E. Idäfeli (Zürich). 1927
Ähnliche Eigenschaften wie Abb. 1. Man beachte die
zurückspringenden Vorderbeine und die breit ge-
bogene Auflagenfläche der Rückenlehne.

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