Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

DOI Heft:
Heft 21
DOI Artikel:
Kunst-Literatur
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0660

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
KUNST-LITERATUR

SIEGFRIED GIED10N: BAUEN IN FRANIC-
REICH. Eisen. Eisenbeton. Verlag von Klink-
hardt & Biermann. Leipzig-Berlin 1928. Zweite
Auflage.
Der Wert dieses ausgezeichneten Buches liegt dar-
in, daß hier zum ersten Male an Hand eines rei-
chen und interessanten Materials, das die Kunstge-
schichte bisher nicht kannte, überzeugend darge-
legt wird, daß unser neuer Baustil keine willkür-
liche und kurzlebige Modeangelegenheit ist, son-
dern die Konsequenz und notwendige Fortsetzung
einer Tradition.
Das technische Novum der Eisenkonstruktion und
das des Eisenbetonbaus sind Anlaß und Mittel die-
ses neuen Stils, und da deren Schwerpunkt in
Frankreich liegt, so wird das »Bauen in Frank-
reich« mehr als die Monographie einer national-
begrenzten Bauentwicklung, es wird die Entste-
ll ungsgeschichte der modernen Baukunst über-
haupt. Sie wird gesehen von seiten ihrer techni-
schen Voraussetzungen und wird damit zugleich
gesehen von seiten ihres Stils. Wie selten wird hier
klar, daß der Stilwille und die Entdeckung neuer
technischer Möglichkeiten gleichzeitig und Hand
in Hand gehen, daß dieselben Wachstumskräfte,
die den technischen Schritt machen, auch den Stil-
wandel erzeugen.
Das Eindringen des Eisens und des Eisenbetons be-
deutet zugleich eine Umwandlung des Produktions-
prozesses von einem handwerklichen in einen in-
dustriellen. Diese Erkenntnis mangelt all den histo-
risierenden Spielereien, die unter dem Namen
»Heimatschutz« (in Frankreich »style regionale«)
oder bodenständiger Tradition noch heute die Ent-
wicklung hemmen.
Die Eisenkonstruktion setzt an Stelle der
Gesetze von Last und Stütze, die die Gestaltung
des Baues bisher allein bestimmten, das schwebende
Gleichgewicht. Der Glaseisenbau bedeutet das
Ende der Massenarchitektur, d. h. das Ende einer
Architektur, die auf der massiven, undurchsichti-
gen Mauermasse basiert, die den Raum immer nur
an ihren Außenflächen entlang frontal halten
kann. Mit dem allseitigen Zusammenfluten von In-
nenraum und Freiraum und der Reduzierung des
Massenvolumens auf ein aktives Liniensystem tre-
ten neue Momente auf, die den Vorstellungsbereich
der tradionellen Barockarchitektur so stark erwei-
tern, daß ihre Ausdrucksmittel nicht mehr ausrei-
chen. So wächst von selbst der neue Stil. Vorberei-
tet wird er in Frankreich schon seit den 20 er Jah-
ren des vorigen Jahrhunderts, durchgeführt seit
den 80 er Jahren.
Der E i s e n b e t o n b a u , etwa seit 1890 als neues
architektonisches Gestaltungsmittel verwendbar,
scheint mir neben technischen Vorteilen auch die

Möglichkeit gebracht zu haben, den Freiraum nicht
nur allseitig zu durchdringen, sondern auch zu-
gleich durch seine Flächen allseitig zu gestalten.
Das ist der Punkt, an dem wir heute noch stehen.
Er ist das Ende einer Entwicklungslinie, deren An-
fänge, von der Last tradionaler Form fast ver-
deckt, in der französischen Baukunst vom Anfang
des vorigen Jahrhunderts liegen, und zwar sind
Markthallen, Bibliothekssäle, Warenhäuser und
vor allem Ausstellungsgebäude die Dokumente.
Wie von einer aufkeimenden Pflanze die lastenden
Erdstücke, so werden von den neuen Konstruktio-
nen die Formen der Massenarchitektur mehr und
mehr als leere Hüllen nach außen hin abgeschoben,
bis dann — scheinbar plötzlich -— das Novum un-
seres neuen Baustils dasteht. Daß wir ihn als not-
wendiges Endprodukt eines langen organischen
Entwicklungsprozesses erkennen können, verdan-
ken wir diesem gründlichen und gedankenreichen
Buch Siegfried Giedions. Alexander Dorner
KARL BLOSSFELDT: URFORMEN DER KUNST.
Photographische Pflanzenbilder. Herausgegeben
mit einer Einleitung von Karl Nierendorf.
Berlin, Verlag Ernst Wasmuth.
Diese edle Publikation benutzt die Photographie,
um Vergrößerungen von Pflanzen und Pflanzen-
teilen, ihre ästhetische Gesetzlichkeit, die Schönheit
ihrer Form und ihres Aufbaues darzutun.
Erstaunlich ist, daß diese Bilder, die Karl Bloß-
feldt auf ihre künstlerische Vollkommenheit hin
auswählte und photographierte, wie Schöpfungen
des menschlichen Geistes der bildenden Kunst,
wirken.
Man hat die Bestätigung, daß antike Ornamentik,
gotisches Maßwerk, Rokokoschnörkel dieselben
ewigen Gesetze und geheimnisvolle Gebundenheit
haben wie Zweigspitzen vom Lebensbaum, ein
Mannstreublatt, Rittersporn und andere Gewächse
in vielfachen Vergrößerungen.
Der Stil der 90er Jahre, der später entartete »Ju-
gendstil«, hatte seine Theorie auf diese wunderbare
Einheitlichkeit von Kunst- und Naturschöpf ung ge-
gründet. Aber da die Zeit das nachzuahmen ver-
suchte, was unbewußte Kräfte unterirdisch in rei-
ner Wirkung bleiben sollten, wurde das Resultat
roh und plakathaft, ein Zwischending von Natur
und Kirnst.
Der Künstler soll sich also hüten, nach diesen groß-
artigen Photographien »schaffen« zu wollen.
Die Herausgabe bedeutet Freude an sich. Es ist eine
Offenbarung, was Schachtelhalme, Kreuzdornge-
wächse, Kürbisstengel, Disteln, Hopfenpflanzen,
Mohnkapseln an Statik und Dynamik, edler Kom-
position und Sensibilität der Umrisse zu geben
haben. Sascha Schwabacher

624
 
Annotationen