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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 3
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Weiss, Emil Rudolf: Erste Begegnung mit Edgar Tytgat
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0107

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Edgard Tytgat

Ausstellung Galerie Fiechtheim, Berlin

Sommerabend

ERSTE BEGEGNUNG MIT EDGARD TYTGAT
VON E. R. WEISS
Auf der internationalen Buchkunstausstellung in Leipzig im Sommer 1927 war auch
ein kleiner Raum mit Kinderbüchern zu sehen. Ich ging da so an den Vitrinen ent-
lang und besah mir neugierig und etwas gelangweilt, was da zu sehen war. Plötzlich
blieb mein Auge an einem kleinen bunten Blättchen hängen, einem farbigen Holz-
schnitt. —- Aha! sagt’ ich zu mir und kriegte ein bißchen Herzklopfen, und Ah! und
Oh! sagte ich und war ganz beglückt von der Innigkeit der Empfindung, die aus dem
kleinen Ding sprach, und von seinen hellen starken schönen Farben und von dem
großen Geschmack der winzigen Arbeit, die da so bescheiden und edel unter all dem
bunten Kram hing. Und da war noch so ein Blättchen, das war fast noch schöner,
und noch eines und das war das schönste! Das war doch »Rotkäppchen«, das mit
einem Kuß von der Mutter Abschied nimmt, um zur Großmutter zu gehen, und da
trifft sie den Wolf, er steht auf den Hinterbeinen aufrecht, so groß wie das Kind und
spricht mit ihm, und da steigt der Wolf im Nachtgewand der Großmutter in ihr Bett
hinter dem großen geblümten Vorhang. Ich stürzte ins Bureau der Ausstellung und
fragte nach der Herkunft der Blättchen. Richtig: »Le petit cliaperon rouge«, dessine
et grave par Edgard Tytgat. Da sah ich das ganz kleine Buch, ganz und gar in Holz
geschnitten, Text und Bild und Einband und blumiges Vorsatzpapier, ein richtiges
komplettes kleines Meisterwerk, und kaufte es mir gleich und ein zweites dazu »Le
lendemain de la Saint-Nicolas«, das Tytgat auch gedichtet hat, und hörte, daß in der
belgischen Abteilung der Ausstellung auch andere Holzschnitte von ihm zu sehen
seien. Da waren denn Jahrmärkte und Zirkuszelte und Karusselle und Zigeuner mit
ihren W agen und kleine Landschaften mit Baracken und Windmühlen und winzigen
Häuschen, und alles war wahr und doch verwunschen und wie aus dem Märchen.
Das Märchen ist die Seele dieses Künstlers. Was das für eine Seele ist, das faßte ich
richtig erst, als ich ihm geschrieben hatte und ein Heft von ihm bekam mit Ab-

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