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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 23
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Kunst-Literatur
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KUNST-LITERATUR

JULIUS MEIER-GRAEFE: COROT. Mit r5:i Ta-
fein in Lichtdruck. In den Verlagen Bruno
Cassirer und Klinkhardt & Biermann. 1980.
In Halbpergament 100 RM.
In der ersten Ausgabe seiner »Entwicklungsge-
schichte der modernen Kunst«, die vor einem Vier-
teljahrhundert ans Licht der Welt trat und mehr
Revolution als Evolution bedeutete, hatte Meier-
Graefe Corot ausgelassen. Einigermaßen mit
Riecht. Anderes schien damals wichtiger und war
auch wichtiger. Den Mann, der Nymphen unter
Frankreichs Silberpappeln tanzen ließ und von
dem Zola gesagt hatte, wenn er bloß seine Land-
schaften mit Courbetschen Bäuerinnen bevölkern
wollte, würde er ihn »kollossal lieben«, konnte
man, ebenso wie den gleichfalls vergessenen Cour-
bet, leicht bei Gelegenheit nachholen. Meier-
Graefe holte die beiden im Jahre 1905 in einem
schönen, nicht sehr dicken Bande nach und kam,
da dieser Moderne die alten Meister auch so an-
zusehen pflegt, als wären sie noch gar nicht tot,
dabei für Corot auf die Entwicklungslinie Jan
Vermeer und Chardin, die noch keiner gesehen
hatte. Dann holte er im Jahre 1918 Corot aber-
mals nach in einem etwas dickeren Buch, Corot
allein, auf dessen Innentitel steht: »Endgültige
Ausgabe«. Aber die Tatsache, daß der Pere Corot
nicht nur die silbernen Nymphen gemalt hatte,
sondern noch ganz andere Dinge, von Anfang an
und dann eigentlich immer wieder, ließ Meier-
Graefe nicht zur Ruhe kommen, und so schrieb er
nun ein wirklich großes Buch über ihn, so groß
wie das Buch über Delacroix und ebenso schön wie
dies oder, da er ja immer von neuem auf dem
Aufbruch ist und scheinbar ganz von vorne an-
fängt, noch schöner.
Sieht man die i53 gut gedruckten Lichtdruck-
tafeln an, die den Bildteil ausmachen, so wünscht
man sich, diese 153 Gemälde, nur diese, hingen
einmal in einer Ausstellung zusammen. Denn das
ist ein ganz neuer Corot, einer, den man kaum
kennt, an den man nicht denkt, wenn von Corot
so allgemein hin die Rede ist. Eine Reihe der be-
rühmtesten Werke fehlt. Jene tanzenden Nym-
phen kommen kaum vor, Souvenir d’Italie und
Castel Gandolfo und alles, was Chauchard dem
Louvre schenkte, wird kaum erwähnt. Die kleinen
in Italien gemalten Landschaften dagegen, bisher
als schönes Nebenwerk oder Vorbereitung ange-
sehen, und die Figurenbilder, die Corot selbst, der
sich als Landschafter fühlte, nie in den »Salon«
schickte und die bisher als schönes Sondergebiet
geliebt wurden, machen den Hauptbestandteil aus,
und von dem kleinen Bild in Dublin, dem Brun-
nen auf dem Monte Pincio, ist seitenlang die
Rede. Eine Umwertung aller Werte ist, nicht nur
mit hinreißender Beredsamkeit und dichterischen
Beschreibungen, sondern mit ganz tief begründe-

ter Überzeugung vorgenommen. Aber das Buch
ist damit nicht etwa ein Gegenstück zum »Jungen
Menzel« geworden, in dem es ja auch um die Ent-
deckung der anderen Seite ging, wo nur der junge
Menzel als ein großer Künstler und der alte Men-
zel (der doch aber das »Ballsouper« gemalt hat),
als ein mittelmäßiger Maler hingestellt wurde.
Sondern Corots scheinbare Einfachheit wird als
eine sehr verwickelte Einfachheit erkannt. Die
zwei Seelen in seiner Brust lebten bis zum Tode
des Künstlers nebeneinander und gegeneinander
weiter. Immer, auch auf dem Gebiet der Figuren-
malerei, die Corot nur für sich und ein paar
Freunde trieb, steht Gleichgültiges neben Herrlich-
stem, Sorglosigkeit des Schaffens neben fanati-
schem Piingen des Schöpferischen, Selbstwieder-
holung neben der unerhörtesten Einmaligkeit des
Wurfs. Meier-Graefe hat, wahrscheinlich endgül-
tig, den großen, den schöpferischen Corot ge-
schildert und seine Figur, von allen Schlacken
und allen Zufälligkeiten befreit, wie in Bronze
gegossen vor uns aufgerichtet. So, daß man dem
Verfasser, was man früher nicht immer im ersten
Augenblick konnte, auch bei der Verneinung zu-
stimmt; weil man Größeres gewonnen als verloren
hat. Ohne Opfer geht es nie.
»Wir kommen ihm am nächsten, wenn wir ihn
uns als einen Gesandten denken, dem sein Land
kleine und große Geschäfte auftrug, wie das auch
mit den richtigen Botschaftern geschieht. Die klei-
nen Geschäfte vergißt man, die großen werden Ge-
schichte. Corot vollzog beide mit der gleichen Ge-
fälligkeit. Es ist nicht seine Schuld, wenn man
immer noch die kleinen aufhebt, weil sie zufäl-
lig große Piahmen haben. Wenn nach einem
Manko des Intellekts gesucht werden muß, fällt es
dem Überlebenden zur Last. An uns ist es, der
Wahllosigkei t zu steuern, damit die Botschaft nich t
verloren gehe.«
Schöner und gerechter kann man es nicht sagen.
Die Linie der Entwicklung wurde reicher und ver-
zweigter. Nicht nur mehr der Delfter und Char-
din stehen darin. Corots Platz ist vielmehr in die
Mitte der Malerei gerückt, nachdem man ihn erst
einmal aus dem Walde von Fontainebleau und der
Ecole de Barbizon herausgeholt hatte. Unterirdi-
sche Tradition verbindet ihn mit Hubert Robert,
Jacques Louis David steht ihm, in seinen Anfän-
gen, nahe, so, wie er der scheinbar, tatsächlich
nur scheinbar eklektischen Kunst Corregios durch
Artverwandtschaft seiner Frauengestalten viel
näher steht, als ihr dessen Epigone Proudhon je
nahe stand.
Dann befindet er sich plötzlich sowohl Ingres wie
Delacroix unmittelbar gegenüber. Auf naivste
Weise enthält er von beiden Elementen etwas.
Und im ganzen angesehen, ganz frei, aber ganz in
der Tiefe verband er mit vollkommen unverdorbe-

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