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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 4
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Giedion, Sigfried: Lebendiges Museum
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0133

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»Raum der Abstrakten« in der Gemäldegalerie des Provinzialmuseums in Hannover
(Aufnahme nach Angaben Lissitzkys)
Die Aufnahme zeigt relativ deutlich die Auflösung des Wandcharakters durch die Verkleidung mit Eisen-
bändern. »Proun« von Lissitzky auf dem neuartigen Hintergrund von drei Seiten gesehen.

LEBENDIGES MUSEUM VON SIGFRIED GIEDION
Die Kritik, die die ganze Kunst ergriffen hat, wird auch in den Museen historischer
oder zeitgenössischer Malerei spürbar.
Es tauchen Fragen auf: Entspricht der Wert der Museen dem großen Anteil, den sie
am Budget haben, das der Staat künstlerischen Zwecken zubilligt?
Es genügt nicht mehr, die Gegenstände kultiviert aufzustellen, ja selbst die kühnen
Bildbestimmer und die glücklichen Hände, die Meisterwerke in vergessenen Depots
entdecken, haben heute keine Alleinberechtigung mehr. Wir verlangen auch vom
Museum noch ein Übriges: Lebendigmachen des Kunstbesitzes!
Im 19. Jahrhundert hatten die Museen leichten Stand, da man den ästhetischen
Wert in seiner Isolation schätzte. Heute, da diese Ansicht ins Wanken gerät und
wir von allen Dingen eine gewisse Eingliederung ins Leben verlangen, wird die Stellung
zu Museum und Historie eine andere. Man wird genötigt sein, jene Seiten der Ver-
gangenheit hervorzuheben, die die lebende Generation angehen. Geschieht dies nicht,
so wird man früher oder später die Museen in ihrer jetzigen Gestalt als einen toten
und zu schweren Besitz empfinden.
Einfacher stellt sich die Frage bei den Sammlungen für zeitgenössische Kunst. Man
wird von jedem öffentlichen Institut dieser Art fordern, daß es ein »Versuchs-
laboratorium« einrichtet, eine Abteilung, die die im Augenblick zur Diskussion
stehenden Kunstrichtungen zu Wort kommen läßt.
Selbst wenn sich keine größere Konstanz in der Entwicklung anbahnte, müßte den-
noch an die Errichtung solcher »Laboratorien« gedacht werden.
Nichts ist uns heute widerwärtiger, als der sogenannte »Ewigkeitsstandpunkt«. Der
Standpunkt »sub speciae aeternitatis«. Bekanntlich haben die Museumsleiter des ver-
gangenen Jahrhunderts diesen Standpunkt durchwegs geteilt, um trotzdem der Zeit-
lichkeit zu verfallen.
A\ ir billigen nun bewußt dem Augenblick seine Lebensberechtigung zu, mögen die
gekauften und natürlich nicht bloß ausgestellten Kunstwerke, auch nach einiger Zeit
anderen Platz machen müssen. Die neuen Museen sollen zu einer lebendigen Chronik

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