Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929
Zitieren dieser Seite
Bitte zitieren Sie diese Seite, indem Sie folgende Adresse (URL)/folgende DOI benutzen:
https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0085
DOI Heft:
Heft 2
DOI Artikel:Giedion, Sigfried: Sitzgestaltung
DOI Seite / Zitierlink:https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0085
Abb. 3. Metallstuhl. Sitz und Lehne federndes Stahlband. Armatur: Guß
Seit ungefähr 40 Jahren sieht man diese Modelle in allen französischen Parkanlagen. Sie haben sich bestens
bewährt, so daß die Ästheten neuerdings sogar nicht mehr an der »Form« Anstoß nehmen. Der Stuhl ist
zu schwer. Konstrukteure und Industrie mögen heute Besseres schaffen. Doch ist dieser Stuhl Zeuge einer
abgebrochenen Entwicklung.
und Konsument von der rein ästhetischen Beur-
teilung, die er ohnehin in zwei Jahren wieder über
Bord werfen wird, wohltätig ab und führt ihn in
die viel dauerhaftere und tiefere des F unktio-
nalen. Aus dem unsicheren Betrachter wird auf
diesem Weg ein Mitarbeiter, denn nichts erleich-
tert dem Fachmann so sehr seine Aufgabe, wie
eine präzise Problemstellung. Und ohne Niveau der
Beurteilung kann auf die Dauer auch kein Niveau
der Produktion entstehen.
Diese Ausstellung ist wichtig, da sie von der »kom-
pletten Garnitur« wegführt und das Einzel-
möbel in den Vordergrund stellt. Wenn man die
wenigen Säle durchschritten hat, so nimmt man an
innerer Klarstellung mehr mit, als bei hundert
kompletten Zimmereinrichtungen, die alle Pro-
bleme antönen und nicht ein einziges klären. Es ist
natürlich andererseits viel leichter, hundert will-
kürliche »künstlerische« Zimmereinrichtungen ne-
beneinander zu stellen, als die Frage des Sitzens an
einigen Stühlen, die aus dem ganzen Kulturkreis
genommen sind, zu erläutern.
Wo stehen wir heute?
Es gibt heute zwei Möglichkeiten der Entwicklung.
Die erste besteht darin, die Forderung nach Be-
quemlichkeit, Anpassung an den Körper durch Ver-
vollkommnung des bisherigen Weges zu erreichen.
Typ: Vierbeiniger Zargenstuhl mit fester Rück-
lehne (Abb. 1).
Der zweite Weg verlangt eine Umstellung. Seine
Forderungen sind: Größere Bequemlichkeit bei
niedrigerem Preis. Wie beim Auto muß durch ra-
tionellere Gestaltung bei besserer Qualität der Preis
sich senken. Die Folgen: Standardisierung, völlige
Industrialisierung: Metallstuhl. Metall verspricht
für später eine Möglichkeit, die dem IIolz nur sehr
begrenzt zukommt: Es eignet sich für einen beweg-
lichen Mechanismus. Die Entwicklung führt zu
einer Bequemlichkeit, die nicht auf dem Weg von
Polster, Volumen und Schwere erreicht wird, son-
dern durch elastisch-bewegliche Anpas-
sung an den Körper.
Wie Adolf Loos vor dreißig Jahren bereits be-
tonte (vgl. Loos, »Ins Leere gesprochen«, Verlag
Gres & Co., Paris, pag. 62), haben die Engländer
und Amerikaner »im Laufe des 19. Jahrhunderts
mehr Sesseltypen erfunden, als die ganze Welt, alle
Völker mit eingeschlossen, seit ihrem Bestand. Dem
Grundsätze gemäß, daß jede Art der Ermüdung
einen andern Sessel verlangt, zeigt das englische
Zimmer nie einen durchgehend gleichen Sessel-
typus.«
Auch auf dieser Ausstellung rühren die funktional
am besten durchgebildeten Typen von England her.
Modelle, die deutlich in ihrer Formensprache die
Tradition des 18. Jahrhunderts aufweisen, sind ein-
fach vom Leben zu Standardtypen erhoben wor-
den. Man fabriziert sie heute wie vor fünfzig Jah-
ren unverändert, und man tut gut daran, sie un-
verändert zu lassen, denn sie haben ihre erstaun-
55