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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

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Heft 19
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Riesebieter, O.; Rudolph, M.: Die Erfurter Jahrtausend-Ausstellung
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0584

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Stück vom Ende des 13. Jahrhunderts), deren
Einzelteile schwer und substanziell waren, ist die
Wirksamkeit gegeneinander abgewogener großer,
geschlossener Massenkomplexe getreten, deren
Stofflichkeit durch die lockeren Stichmuster fast
aufgelöst ist; sie schweben in hellen Farben, die
jetzt zu weiß verblieben sind, mit dünner dunke-
ler Umrahmung in wirklich trecentohafter Zart-
heit auf dem freigelassenen Stoffgrund (der dem
Goldgrund der Gemälde entspricht). Die eigent-
liche Stickkunst ist in den Füllmustern, auf die
allein sie sich beschränkt, außerordentlich fein
und, indem das Eigentlich-Textile die Souveränität
über die gesamte Fläche aufgibt und sich auf die
Ausfüllung der mit dem Textilen an sich nicht
wesensverbundenen Vorzeichnungen beschränkt,
wird es so minutiös und in den feinen Mustern
so selbstherrlich, daß der Charakter des Bildhaften
ganz verloren gegangen wäre, wenn nicht eben
diese wesentliche Spaltung in Vorzeichnen und
Sticken ein getreten wäre.
Im »Tristan-Teppich« — eine Reibe von Szenen
aus der Tristan-Sage) in Leinengarn und Wolle auf
Leinen) — stehen auf dem freigelassenen Grund
die bewegten Figuren in der vollen plastischen
Kraft der Zeit von 1060/70. Die Stichmusterung
auf den figürlichen Teilen hebt, da sie stark er-
haben ist, deren Plastizität noch heraus. Dieleichte
Beweglichkeit und die ausfahrenden spitzen Um-

risse haben die strenge Geschlossenheit der gro-
ßen Massenkomplexe gelockert, die modische Zier-
lichkeit hat die Hierarchie in epische Anschaulich-
keit aufgelöst. Durch die verschiedenen Materialien
werden die stofflichen Eigenheiten (so z. B. die lok-
keren Baumkronen durch Wolle) charakterisiert.
Das letzte Stück aus der Reihe, der Magdalenen-
teppich (Wollstickerei) stellt in qualitativ nicht
ganz gleichwertigen Feldern (auf die prachtvol-
len ersten folgen starrere, unfreie) Szenen aus
dem Leben der Magdalena dar. Die freie Beherr-
schung des Tiefenraumes, in den die Figuren ganz
eingebunden sind, und die Bedeutung der land-
schaftlichen Elemente in den Bildern verbieten die
Entstehungszeit des Teppichs vor 1/180 anzuneh-
men trotz der altertümlichen, oft an Plastik von
1 /|5o erinnernden Faltenformationen. Die Stiche
greifen einfach ineinander; sie malen gleichsam
Bilder aus Garn, d. h. der spezifische Charakter
der Stickerei ist nach Möglichkeit verlöscht, Fein-
heiten und Eigenwilligkeiten der speziellen Tech-
nik sind aufgegeben zugunsten des bildhaften Ein-
drucks, der die Ähnlichkeit mit der Malerei er-
strebt. Das haarige Wollgarn trägt dazu bei, die
Relieflinien der einzelnen Stiche zu verdecken und
den Zusammenschluß zum Bildmäßigen: einer
lückenlosen Projizierung des gesamten Sichtbaren
von Raum und Figur — ja jene sozusagen im Sfu-
mato — darzustellen. M. Rudolph


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