Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929
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Heft 20
DOI Artikel:Grohmann, Will: Georges Braque
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Georges Braque Le Radical. 1919
Berlin, Galerie Fleclitheim
GEORGESBRAQUE VON W. GROHMANN
Georges Braque ist die tradition francaise schlechthin. Unter den Erneuerern der Malerei
— und nicht nur in Frankreich — dürfte es keinen geben, der mit einer so funda-
mentalen Umwälzung des Sehens und Gestaltens ein so starkes Gefühl für die Kon-
tinuität, den geistigen Zusammenhang geschichtlichen Ablaufs besäße wie er. Das er-
scheint vielleicht überraschend, aber nur dann, wenn man sich an seine frühen Durch-
brechungen des Geltenden hält und das Resultat nicht einbezieht. Die Erarbeitung
des neuen Formkanons, der neuen Syntax, mußte mehr konsequent als künstlerisch
vollkommen sein. Das liegt in der Natur geistiger Revolutionen, man fängt nicht mit
dem Gleichgewicht an, sondern hört damit auf.
Über den Bildern Braques liegt die Ruhe einer tiefen Weisheit und der Abglanz eines
großen Adels. Das macht, daß er im Sinne der großen Meister von den Grenzen seiner
Kunst ausgeht. »Mon idee ne va janiais plus loin que mes moyens. Mon sentiment
parfois les depasse. (Lest par lui que j’avance et que je trouve des elements nouveaux.«
Diese Selbstbeschränkung, diese Ökonomie, ist der wahre Grund seiner Meisterschaft
und seines Erfolges, die Ursache gleichzeitig der Noblesse, die alle seine Bilder aus-
zeiclmet1.
Man hat sich gewöhnt, Braque mit Picasso in einem Atem zu nennen, sie gewisser-
maßen als die Vertreter einer und derselben Sache, des Kubismus zu bezeichnen. Dies
stimmt insofern, als beide einer neuen Optik sich bedienten. Das war aber auch alles;
im übrigen vollendete sich jeder nach dem ihm eigenen Gesetz. Picasso ist und
bleibt der ganz große Abenteurer, der es wagen kann, von einem Tag auf den andern
epochale Entdeckungen über Bord zu werfen und sich neu zu versichern, alle Höhen
und Tiefen dieser und jener Welt zu durchmessen mit der Souveränität des von
sich und seiner Kunst Besessenen, weil er weiß, daß er etwas findet, auch wenn es
nicht das Gesuchte ist. Seine spanische Herkunft und seine ungewöhnliche Stellung
zwischen Mystik und Dialektik befähigen ihn zu fast gewalttätigen Überraschungen.
1 Die Photos stellten die Galerien Paul Rosenberg-Paris und Alfred Flechtheim-Berlin in freund-
licher Weise zur Verfügung.
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