Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929

DOI Heft:
Sonderheft Kunstliteratur
DOI Artikel:
Römer, Erich: Aus der Ernte des Dürer-Jahres
DOI Seite / Zitierlink:
https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0767

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Aus der Ernte des Dürer-Jahres

Kompositionen Italiens hat man bisher nicht be-
achtet, weil das andere so viel deutlicher spricht:
Bewegung und Pathos der im Stile Mantegnas und
der Florentiner gesehenen Einzelfigur, deren pla-
stische Durchbildung, mit dem formbegleitenden
Liniensystem schongauerisch-nürnbergischer Her-
kunft rundend, das graphische Bildganze zu spren-
gen droht. s
Vom letzten Ausgangspunkte her, durch eine vor-
sichtige und ergebnisreiche Aneinanderreihung al-
ler Werke der 90 er Jahre kommt Stadler zu dem
einigermaßen überraschenden Ergebnis: Dürer hat
die Apokalypse i4g4 in Venedig begonnen. Er argu-
mentiert etwa so: weil die am meisten italienischen
Studienzeichnungen Dürers, der Tod des Orpheus
von i4g4 und der damit zusammengehende Kaub
der Europa, dann von i4g5 datiert die Kostüm-
studie der Venezianerin, die Putten mit der Tro-
phäe (L. 623), das liegende Kind (L.384), der
Frauenakt nach dem posierenden Modell (L. 624
bis 625), von 1496 das Frauenbad (L. 101), von
1497 die vier Hexen und der lautenschlagende En-
gel (L. 73) mit bestimmten Werken seiner Druck-
kunst enge Beziehungen haben, müssen diese gleich-
zeitig sehr, also aus dem und jenem Jahre stam-
men. Und weil in Dürers Darstellungsmitteln eine
folgerichtige Vervollkommnung in der Herrschaft
über das Organische und das Räumliche nachweis-
bar ist, läßt sich das jeweils unentwickeltere gra-
phische Blatt vor die entwickelteren Studien usw.
datieren. Also müssen in der Apokalypse die Eröff-
nung des Himmels (B. 63) 14g4 entstanden sein,
die babylonische Hure (B. 73), die Märtyrer mit
Palmen (B. 67), das Tier mit den Lammshörnern
(B. 74) und die Posaunenengel (B.68) i4g5 noch
vor der hl. Familie mit der Heuschrecke (B-44)-
Es soll dann immer noch i4g5 in Venedig eine
Pause in der Apokalypsen-Arbeit folgen, in der
Dürer die ersten Blätter der großen Passion arbei-
tete: Grablegung und Ölberg, dann den Jüngling
mit dem Bohrer (L. 664) und die große Marter der
Zehntausend (B. 117) sowie den Ercules (B. 127).
In einem neuen Anlaufe nun die Hauptblätter der
Apokalypse in der Reihenfolge B. 6g, 65, 6i/64,
72, 75/66, 70, verteilt auf die Jahre i4g5 bis
1497, unterbrochen von der Geißelung B. 8 und
einiger Stecherarbeit. 1498 erreicht Stadler das
Ende der Apokalypse-Arbeit mit ihren Anfangs-
blättern B. 72 und 65 und verlegt ins selbe Jahr
den Rest der frühen großen Holzschnitte, die Stiche
der »Versuchung« und des »verlorenen Sohnes«, die
Wasserfarben-Malereien — und den Dresdner Al-
tar (dessen Mitte Friedländer in der »Cicerone«-
Festschrift um 1497 datiert, während er an der
späteren Entstehung der Flügelgemälde festhält).
Eine solche ideale Chronologie, wie sie ja auch den
Büchern von Flechsig und Tietze zu entnehmen ist,
nur mit wesentlich verschiedenem Ergebnis, sie
hat zur unbedingten Voraussetzung eine bis ins
Letzte und Tiefste gehende Einfühlung in das Spe-

zifische Dürerischen Formwillens. Das klingt selbst-
verständlich, ist es aber nicht. Stadler nennt es
(S. 36 f., vgl. hier Abb. 1) »bemerkenswert, daß
der Engel, der die Formen versiegelt (B. 66), sich
nicht ganz von der Felswand vor ihm absondern
läßt; man weiß nicht recht, wo die eine Form auf-
hört und die andere beginnt. Neben dem Flügel
des Engels erscheinen offenbar mißverständlich
wiedergegebene menschliche Kopfteile«. Solche
Mißverständnisse, die keineswegs aus der »Wieder-


Abb. 1
Aus den »Vier Windengeln« in Dürers Apokalypse
gäbe«, sondern nur aus dem Unvermögen unseres
Auges stammen, Dürers spätgotische Formverflech-
tungen und perspektivische Künste bequem zu er-
kennen, sie enthüllen die Schranken von Stadlers
Untersuchungsart. In Wirklichkeit hat Dürer für
seine damaligen Begriffe deutlich die wagerecht
schließende, mit einer leichten Grasnarbe über-
wachsene Felsenbank von dem Engel dahinter ab-
gesetzt. Und was zwischen den beiden Engelsflü-
geln, unter der Schwerthand des Engels im ver-
lorenen Profil das Mißverständnis bei Stadler ver-
schuldete, sind drei wieder hintereinander stehende
und daher abnehmend verkleinerte, abgeschnittene
und sich überdeckende Teile von Köpfen: der vor-
derste mit mittelgescheiteltem Haar wird noch mit

7
 
Annotationen