Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 21.1929
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https://doi.org/10.11588/diglit.41323#0135
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Heft 4
DOI article:Giedion, Sigfried: Lebendiges Museum
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Fensterwand im »Raum der Abstrakten« im Provinzialmuseum Hannover
Beiderseits der Heizung die Vitrinen, die vom Besucher gedreht werden können und so vier Schauflächen
zeigen, statt — wie bisher üblich — eine. Links eine Plastik von Archipenko, die vor einer Spiegelfläche steht.
des Horizonts erobert, bevor die Architektur in Frankreich ihre Alleen und Garten-
parterres in einem optischen Unendlich enden ließ.
Und heute: Ehe das neue Bauen das Gesicht der Städte verändert hat und zeigen kann,
daß die kompakten Straßenwände des Barock— mit ihrer klaren Scheidung' von Straße,
Straßenwand und Straßenraum — ebenso endgültig zerschlagen sind, wie das festungs-
mäßig in sich geschlossene Haus, weist die abstrakte Malerei in ihren vielfachen
Schattierungen darauf hin, daß es keinen abgegrenzten Raum mehr gibt und an
seine Stelle ein neues System von BEZIEHUNGEN und DURCHDRINGUNGEN ge-
treten ist.
Für die Einrichtung des »Abstrakten Raumes« im Museum zu Hannover hat Alexander
Dorner EL LISSITZKY berufen, der in den »ISMEN« seine eigenen Bilder mit den
W orten umreißt: »Umsteigestation von Malerei zu Architektur«. — Bereits in der inter-
nationalen Gemäldeausstellung Dresden 1926 hatte Lissitzky, allerdings mit einfacheren
Mitteln, einen Versuch gemacht, einen Raum für abstrakte Bilder zu gestalten.
Die Wandfläche erscheint aufgelöst, vor sie tritt eine Verkleidung aus enggereihten
vertikalen Eisenlamellen (in Dresden waren es schüttere Holzlatten), die senkrecht zur
Wand stehen. Diese Lamellen, ungefähr 5 cm breit, werfen nun vertikale Schatten-
rmnen und entmaterialisieren die Wand bis zur völligen Ungreifbarkeit. Man kann
heute noch in katholischen Gegenden an vielen Bauernhäusern Heiligenbilder aus be-
malten gläsernen Lamellen sehen, die sich für den vorübergehenden Beschauer ab-
wechselnd zusammenfügen und zersetzen. Lissitzky nimmt — vielleicht unbewußt —■
die barocke I radition auf und übersetzt sie ins Abstrakte. Vor der irrationalen Fläche
hängen nun die Kompositionen Lissitzkys oder Moliolys, die erst in dieser schwe-
benden Atmosphäre das Leben entfalten können, das in ihnen steckt.
Zeitweise wird die Reihung der Lamellen unterbrochen und vor weißem oder schwar-
g Der Cicerone, Jahrg. XXI, Heft 4
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