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Heidelberger Tagblatt — 1860 (Juli bis Dezember)

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November
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Freitag, 3v. November

dik Zsxolliai Bk«
wcrdkn mii'^lr.

186»

Dölitische Ämneftie.

Wir tvcrden wohl nicht irre gehen mit
der Behanptnng, daß di'e Bevölkerung
Badcn's Iiahezii fl'nstl'nmn'g die Ertheilung
einer vollen und niibcdliig'ten Aiimesti'c für
politische Verbrechen bevorworten M'irde,
wenn man ihr dic Gelcgenheit gäbe, nber
diese Frage sich üuöznsprechcn. Schon
gegen den Schlnß der vorigen -La'ndtags-
session war die UnterztichnnNg von Peti-
tionen in diefem Sinne tn Gang flekom'
men, und ein deMselb'en entsprechender
Antrag'wäre in der 2. Kammcr gestellt
und wahrscheinlich anch angcnommen wor-
dcn, wenii män sich nicht cher Hoffnung
hingegeben hättc, die Negierung werde in
diescr Sache von sich aus eine die öffent-
liche Meinung znfriedcnstellende umfaffendc
Maßregel beschlicßcn. Wir wollcn dahiii
gesiellt sein lasscn, in wie wcit jene Hoff-
nnng begrundrt war oder eS noch ist, da
wir in die Gcheimnisse der Negierungs--
kreise nicht eingeweiht sind; jedenfalls aber
halten wir es für cine Pflicht der unab-
hängigen Presse, auch über diesen Gcgen-
stand ihre Ansicht auszusprechcn.

Die unserem Lande angchörigen poli-
tischen Verbrccher, welche dic gegen sie
ausgesprochcne Strafc noch zn erstehen
haben, leben alle als Flnchtlinge im Aus-
lande, und ihre Zahl ist noch ziemlich be-
deulknd. Sie gehören mcist derjenigeN
Hfatcgoric an, wclche wegcu starkcr Be-
thciligung an der Ncvolution von den
vorhcrgehenden Amnesticn ausgeschlossen
wurdc. Außer ihnen bcfinden sich noch
eine Anzahl von Männcrn im Laiidc, die
zwar ihrc Strafe'erstanden oderlvon'riner
Amnesiie Gebrauch gemacht haben, auf
denen abcr »och gewisse Folgen ihrer Der-
urtheilung (z. B. Ausschluß vom Staats'
und Kirchcndieiist) lasten. Was die Flncht-
linge betrifft, so haben diese znm Theil
sich im Anslandc cine ehrcnvolle und cin-
trägliche Stellnng, haben sich Haus nnd Herd
gegründct, und diese würdcn ihrrn Wohn-
sitz nicht wieder ,'m Vatcrlandc aufschla-
gen. Andcre dagegcn sind so situirt, daß
six mit Hreudcn die Gclegcnheit ciner
sirgffreien Rückkehr, die nicht mit ihr po-
litischks Ehrgefühl beschwcrenden Bedin-
gungeu verknüpft wäre, bcnützcii würdcn,
mn neue'Wurzcln in dem Boden zu schla-
gen, dem sie dnrch Geburt und Spmpa-
thie des Herzens angchören, und aus dem

die Stürme ciner uach Deutschlands Wie-
dcrgeburt rliigenden Zcit sie gcworfen
haben.

Nicht Jedermann ist es gegeben, sich in
der Fremdc so leicht zn acclimatisiren;
namcntlich widerstrebt der gcmuthlichen
Richtiing der dcutschcn Natur schr häufig
der Anfenthalt in den Vcreiiiigteii Staaten
Nordämevikas, wohin doch die große Masse
der Flüchtlingc zri zi'ehen genöthigt war.
Fur Flnchtlingc dicser Classe ist cin zwölf-
jahrig'es Eril, ganz abgeschen von den
mcist schr großcn materiellen Nachtheilen,
welche die gewaltsäme Unterbrechung eineS
Lcbeiisberufes immer mit sich bringt, eine
Strafe, die zwölf Jahre Zuchthaus wohl
aufwiegt. Wer die zahlloscn phpsischen
nnd pspchischcn Lcidcn des Lebcns im Eril,
wer die Schwl'crigkeiten, ffch in einer Welt
emporznarbcitcn/in die man seiner gänzen
Naturanlagc und 'Entwicklung nach nicht
paßt, wer die gefährlichcn Klippen kennt,
an wclchen dcr Weg der Ehre hinzieht,
dcr wird dieser Behauptung wohl nicht
widersprechen. Das Volk, welchcS der
Jnstinkt häufig von dcm starren RechtS«
standpunkt auf den Standpunkt einer
menschlichcn Beurihtl'lung der Dr'nge er-
hebt, trifft auch in dieser Bezichung däS
Nichtige, indem es sagt: das Eril sühnt
Vcrbrechen. Jst doch diese AnschauungS-
weise selbst in einzelne Gesctzgebungen
übergegangen; in Frankrcich z. B. , wo
die Strafe der Proscrr'ption bestcht, ist
für politischc Verbrcchen er'n Jahr Ver-
baiinilng gesetzlich glei'chbedcutend mit cinem
Jahre Gefängniß — auch ein Punkt, in
dcm Dcutschland Frankrcich zum Muster
iiehmen dürfte.

Politischc Amnesticn sind Praris, seit
es politische Verbrechen gibt. Noch zu
keincr Zeit und in kcincm Lande hat man
sich der Ertheilung derselben gänzlich zu
cntziehcn vermocht, da sie von drm volkS-
wirthschafllichen wie dcmpoll'iischen Stand-
pnnkt als eiiie Nothwendigkkit sich dar-
stcllen. Zählt doch die Statistik die ticf-
grei'fknden Nachtheile auf, die stetü dcm
Lande erwiichsen, dessen Negiernng das
Uumögliche versnchtc, die volle Strenge!
dcr Gesetze daucrnd in Aiiwcndung zn
bringen! Kräfte, dke bei eincr zwcckmäßi-!
gcren Politik der Heimaih häücn erhalten!
werden können, wurdcn ansschlicßlich für!
das Ausland fruchtbar, die Ziffer dcr^
Bevölkcruiig und des Wcrihes des Grund' ^

eigenthlims nahm in .bedenklicher Weise
ab , u. s. w.

Aber es ist mr't den Amnestien er'ne
eigcne Sache. Wenn sie den beabsichtig-
ten Zweck der Versöhnung der Bcsicgtcn
illit der sicgrcichen Gewalt errcichen sollen,
so muß das Vergeben und Vergessen un-
beschränkt und unbedl'ngt sein. Auf
die Höhe -dieses StandpunkteS vermag^sich
aber selten cine Negierung ,zu erhcben;
in Deutschland ist cs unscrcs Wissens noch
keiner einzigcn gclungen. Dic Stiinme
dcs Herzcns, wo sie in diesen Negionen
lant wird, wird ziim Schweigen gebracht
von Nücksichlcn auf die „Achtung des Ge-
sctzcs", auf das „Wohl des Landes", die
sich bei nähercr Detrachtung all'e als ge-
radezu verkehrt crweisen.

'Gleichsam tropfcnwcise wird hente diese,
morgen jcne Kategvrie amnestirt und dazu
noch unter Bedinguttgen, welche das Ehr-
gefühl dcs Manncs auf's Tiefste verletzen
müssen, wie z. B. dr'e ausdrückliche Br-
zeugung von Renc und das Versprechen
von Besscrung. Wer sich von einein sol-
chen Verfahrcn eiiien guten Eindruck ver-
spricht, der vcrkennt die Mcnschkiiiiatur
ganz und gar; statt der Gefühle der Krän-
kung und des Dankes pflanzt-cr Gefühle
der Kränkung in die Brust der Amnestir-
len und compromittirt auf eine linvrrant-
wortliche Wei'sc die Würde des Fürsten,
hinter dtffen GrößmNth er das finstere
und drvhciide Gespenst ininl'sttrktllen Mkß-
trauens stcllt. Wirkll'chtii polilischcnWerth
hat nur diejcnige Amnestic, welche rück-
haltslös nnd mitEinemSchlagddieSchuId-
bücher dcr Vcrgäiigenheit vcrnichtet.

Hoffen wir daher, däß dkr Nathgeber
der Krone in Badcn sich für die volle
und unbcdingte Alniiesti'rung äller
politischen Flüchtlinge und aller
d e r M ä n ner im Landc, welche noch
iinter den Folgen der gegen sie ergangenön
g erichtI i ch e n S t r'a furtheile l e i-
dcn, aussprcchcn und dadurch dcm Nnhme,
dcu dcr Fürst sich weit und brcit durch
seine Osterproclamation erworbcn, cinen
neiicn Tiiel hinzufügcn. Man wirft zwar
vön gewisser Sciie her gegen die Ausdeh-
iiung der Amiicstie auf atte Derurthcilicn
ohne Ausnahme ein, dies sci ein lAct, der
unr iii Utberkiiistimmung mii den übrigen
Bundesreglcruiigeii ersolgen köniie. Wür
vcrmögen dics iiicht ei'iizusehen, nnd über-
dies tritt dcr Eiiiwnrf dcn Souveräni'-
 
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