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Heidelberger Tagblatt — 1860 (Juli bis Dezember)

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November
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https://doi.org/10.11588/diglit.2834#0421

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M 238.

MLLSSS2HS Do»,n>rstag. 1. Novcmber

jäbrll»36k. ^

18««

K Zur neucn Gewcrbegesctz-
gebung
l.

Tie Frage libcr di'c neue Negelunq dcr
Gewerl'everhältnissc m unserin Großhcr»
zoc;lhum fängt cui, vorwi'egend di'e Ge-
uiüther zu bcschäfti'geii, nachdem di'e vom
Großh. Haiidelsml'iil'sicrülm crlcissenen, vvn
den mntli'chcn Orqaiicn, sowi'e von dcn
Handclskammern und Gcwerbeverei'licn zu
beantwortendcn elf Fraqen dnrch die Zei-
tungen zur vffeiitli'chen Keiintiiiß gcbracht
wordcn. Di'e Presse muß sich durch diesen
Umstanb glcichfalls berufen sehcn, di'esc
Fragen in dcn Bcrcich ihrer Ervrterungen
zu zichcn, um so mchr, als von hoher
Behörde die Frisi der amtlichcn Beant-
wortnng so knrz gestcllt ist. Wir unserer-
seits werden dabei keinen eiiiskitigenStand-
punkt el'nnehmeii, sondern die „Für" und
„Wider" gewisienhaft nnd sorgfältig ab-
wägcn. Es handelt sich hr'erbei iiicht darum,
vom Standpunkte ei'ner wisscnschaftlichcn
Theorie einc Ansicht zu vcrfcchtcn, sondern
in das nüchterne praktische Leben herab-
zilsteigeii, die Verhaltiiisse, wie sie nun
el'nmal sind, in's Auge zu fassen, und
von hier aus über das Unhaltbarc den
Stab zu brcchen, dagegen ctwaigeii wohl-
begründeten Lebcnsbedingungen eilicr freien
Bcwcgung ihre Dcrechtigung zuzncrkeniien.

Die ersie Frage des ministeriellen Nund-
schreibens lautct:

„Vcrlangen dieVerhältnissedcs Großher-
zogthums eine Gewerbcgesetzgcbung, welche
auf dcm Grundsatze der Gcwcrbefrei-
heit bcruht, oder cntspricht denfelbcn
viclnichr einc gesctzliche N e f o r m dcs
Znnftwcsens?"

Dieic Frage läßt sich erst dann richtig
lösen, wcnn man die Begriffe dieser bei-
den Zustände klar macht. Was ist denn
cigentlich nnter Gcwerbefr e iheit, was
nnter Zlinftwesen zu vcrstchen? Das
Lcßtere beruht bekanntlich auf den Hand-
wcrksinn u n g e n oder geschlosscncn Ge-
werb6gciiossknschafte>i,dicauffcste>iSai)un-
gcn über Lehrbriefe, Gcscllcnverhältnissc,
Wanderjahre', Meisterrecht u. dgl. beruhcn,
und die sich im Lanfc der Zeit dnrch den
sogenanntcn Zunftz w a-u g schützten,
welcher den übrigen Staatsbürgcrn dic
Nothwcndigkeit auferlegle, ihre in's Fach
bcr Handwerker ciiischlagendcn Bcdürfnisse
nür von Meistern, die dcr bctreffcndcn

Zuiift angchörten, zu bezichen. DieZünfte >
ssnd cinc aus dem Mittelaltcr herrührendc >
Einrichtung; sie habcn ihrc historische Auf- j
gabc gelöst; sie haben vvrzugswkise znr!
gcdeihli'chcn Eiirwlcfeluug dcs deutscheii!
Bürgerthums beigctragcn; sie häben sich
aber überlebt, sie gehvren der Geschichtc
an, die ihrcn Leistungen und Verdiensten
gcnügcndc Ncchnung trägt. Ihr Fort-
dcstchen als svlche und Hiiieinragen in die
Idcen der Neuzeit erschcint als eiiic wahre
Satpre auf dcn Zeitgeist; denn sie stehen
der Eiitwickliing der individuellen Arbeits-
krafr, wie überhaupt jeder selbststänvigen
Stcllung des Individuums und dem Ge-
nu>>e vcs Maßes von Freiheit, den dcr
moderne' Staat dem Staatsbürgcr ge-
währt, grundsätzli'ch hindernd in dem Weg.
Es kann daher jetzl wohl nichc mehr an
eine Nefvrm dcs Ziinftwesens ge-
dacht wcrden, und cS muß hiernach dic
Aufhebllng der Zünfte und dcr
h i e r auf fußenden gewerbl i ch ? n
Gesetze aus dem Jahre 1806 als
die erste Aufgabe der neucn Gewerbc-
gesetzgebung betrachtet werdcn.

Fragen wir niin: wa 6 istGeweibe-
freiheit? so läßt sich dieser Begriff in
cinem wcitern und in eincm beschränktern
Sinne auffassen. Nach dem einfachen
Wortsinn verstehen Manchc darunrer: die
Freiheit, scine Arbeitskraft und
sein Kapital ganz nach scinem
eig cn en G utdünken z u vc r wert h en,
so daß hiernach Ieder berechtigt wäre, mit
seinen Kcnntnissen und Fertigkeiten zu bc-
giniien und zu trciben, was er wolle.
Man kann dicses die a b s o l n t e odcr
voIlständigc Gewerbcfreihcit iiciinen,
wic sie vou nicht Wciiigen angestrebt wird,
und wic sie z. B. in Amerika ist, wo auch
i'n allen andern Vcrhältnisscn absolute
Frcihcit herrfcht. Aber wir lcbcn in einem
consil'tutionellen Staate, wo atle bürger-
lichen Verhältnisse an gcwisse Schranken
gcbunden sind, wie z. B. die Preßfreiheit
an das Preßgesctz, die Wahlfrcihcit an
dcn Ccnsus u. s. w. Das allgcmeiiie In-
teresse und die noch durch andcrc bcschrän-
kende Gesctzc gewährleisteten Interessen
Drittcr verlaiigcn nöthwendig auch hier
cinc gewisse Beschränkung jener indivi-
ducllcn Freihcit. Würde man sie unbc-
schrankt gcwähren, so hätte z. B. der Hand-
werkcrstcind, der mit wcnig Zeit und Opfcrn
sich zu seiiiem einfache,/ Bcruf bcfähr'gcn

> kann, cine größerc Freiheit, als der Stand
>der Gclchrten iind wl'ssenschastlich gebil«
j dctcii Männcr, dcm es durchaus nicht zu-
!stcht, nach Belicbcn seine Kcnntnissc zn

> verwcrthcn. Witl cr dics Zicl erreichen,
so ist cr an cine Menge Vorbedingungcn
geburidcn, die er crst erfütlen mnß. Wir
müsscn daher nothwcndig den Begriss der
Gcwerbefreihcit ctwas cnger fassen und
sic ctwa dahin präcisiren, daß „jeder (nach
den Dcstimmungen cines Gewcrbegesetzes)
zur Bctrciblliig eincs Gewerbes'Bercchtigte
befugt ist, von scinen natürli'chcn Kräftcn
undFähl'gkeiten, von dcn erworbencnKennt-
iiisscn und Fertigkeiten, sorvie auch von
seincm Kapital jeden freien Gcbrauch zu
machcn, der mit dcn Nechten und Freiheiten
aller Andern verträglich ist."

Untersuchen wir nun, was wesentlich
zum Jndalt dcr Gcwcrbefreiheit ge-
hört, so sindeii wir, daß die Gcwerbe-
freiheit noihwendig in sich schließt:

1) Die individnelle Berechti-
g u n g zum selbstständigen G e-
werbebetrieb, ohne die Noth-
wendigkeit, Mitglied einer Gcwerbs-
genossenschaft zu sein;

2) die jederzcit freie Wahl eincs Ge--
werbeö und hiermit der unbchin-
dcrte Uebertritt von einem
Gcwcrbsbctrr'eb zum andcrn,

sowie auch

3) die Vereinigung mehrerer
Gcwerbe in einer Hand.

Früher mochte wohl kaum Jemand die
Nothwendigkeit fühlcn, von dem einmal
bctretenen Pfade scincs Gewerbes abzn-
gehen. Heutc sind die Verhältnisse gcmz
andcrs; die Fortschritte in den Vcrkchrs-
mitteln, die unglaublichen Erfolge ncucr
Ersindungcn, die Verbrcitung der Fabri-
kation iu allcn möglichett Zweigen können
heute untcr gcgcbenrn Verhältnisscn ein
Gewerbe ruiiiiren und cinen Mann brov-
los machen, den vor Kurzem noch seine
Arbeit crnährte. Hat er rinmal den all-
gemeiiicn gesctzlichcn Vorschriften genügt,
warum sollte cs ihm länger vcrwehrt sci'n,
zu einem andcrn Geschäftsbetrieb überzii-
gchcn, das ihm dnrch günstigcre Verhält-
nisse näher gclegt ist? Es kann nur wohl-
thätig auf dic gcistige n»d moralische Fort-
cntwicklnng des Bürgerthums wirkcn, wcnn
der Handwerker lernt, die Umstände der
Zcik zn erfassen, sie zu behcrr>chen und
 
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