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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 9.1893-1894

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Kirchbach, Wolfgang: Über den Genuss von Bildhauerwerken
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https://doi.org/10.11588/diglit.11970#0115

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von lvolfgang Kirchback.

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Aber weil sie das sind, weil wir damit ganz auf den
geistigen Tastsinn verwiesen sind, den wir durch unser
tastendes Auge und unsre zum Tasten angeregte Hand
— wenn wir in Wirklichkeit auch nicht das Werk bc-
rühren — befriedigen, genießen wir auch das Organisch-
Schöne am Bildhauerwerk vollkommener, als an jedem
Gemälde. Es ist die Forderung der Befriedigung dieses
Triebes organischer Schöpferkraft in uns und im Bild-
hauer, daß das plastische Werk auch von allen Seiten
gleichmäßig ausgeführt und durchgebildet sein muß; es
ist nicht Fleiß der griechischen Bildhauer, wenn sie auch
die Rückseite ihrer Giebelfiguren sorgfältig durchgestalteten,
sondern die innerste Befriedigung ihres organischen Triebes,
der die innere Gliederung des menschlichen Leibes in
seine Oberfläche hineinempfindet und einfach die Empfin-
dung einer organischen Verstümmelung hat, wenn das Ver-
ständnis des Körpers als einer Einheit von untrennbarem
inneren Zusammenhänge nicht in jedem Muskel heraustritt.

Die Schönheit des Körpers ist, ohne weitere ästhetische
Theorien zu berücksichtigen, in der Hauptsache die volle,
gesunde Entwickelung der gegebenen organischen Be-
dingungen des jeweiligen Lebensalters. Sie ruht gleich-
zeitig in der individuellen Ausprägung des Fcrmenlebens
des einzelnen Weibes, Mannes, Kindes und kein Genuß
gleicht dem, z. B. gerade an den antiken Venusgestalten
zu sehen, wie eine jede eine ganz persönliche Schönheit
besitzt. Wer möchte eine Schablone berühren oder be-
tasten? Wenn der Bildhauer in schablonenmäßiges Zu-
sammensuchen vermeintlicher schöner Formen verfällt,
wird er den Kenner beleidigen und sich vom Wesen seiner
Kunst entfernen. Wenn er aber ein Weib bildet, dessen
Formen gesund und ungehemmt entwickelt sind und gleich-
zeitig in allen Teilen auf eine bestimmte Person Hin-
weisen, ein eigenes Formenprinzip, einen eigenen indi-
viduellen Charakter aufzeigen, der Natur gemäß, die jedem
menschlichen Körper einen persönlichen Anstrich im Ver-
hältnis der Formen zu einander verleiht, so wird er
auch — wie jedermann einsieht —- jenen dunklen Trieben
volle Schönheitsberuhigung verschaffen, von denen hier
gehandelt wird. Und so sind eine Venus vom Kapitol,
die milonische Venus, der Dionysus des Michelangelo,
wie so viele göttlich organisierte Gestalten, die gerade
dieser Meister geschaffen hat, auch ganz individuelle,
körperliche Erscheinungen, in denen ein persönliches Ge-
staltungsmaß sichtbar wird und die, je länger man sie
betrachtet, je näher man sie studiert, wie leibhaftige,
wirkliche Modelle erscheinen, wunderschöne, vollkommen
entwickelte Modelle allerdings, die aus ihrem lebendigen
Leben heraus Plötzlich versteinert erscheinen.

Man fühlt, wie sehr zum ganzen Genüsse einer
solchen Kunst auch das Vollgefühl der menschlichen
Körperwelt im Beschauer lebendig sein muß. Und wie
schwer ist es für den modernen Menschen zu erringen,
der nicht einmal das Nervengefühl der Formen seines
eigenen Leibes hat, weil er diesen Leib nur selten be-
rühren kann. Ein Wust von Kleidungsstücken hindert
uns, die eigenen Formen unbewußt zu studieren. In
Griechenland wurde der Umstand, daß jedermann jeden
Augenblick seine eigene Wade fest in die Hand nehmen
konnte, auch die Vorbedingung für das allgemeine orga-
nische Formenverständnis der Bildhauer und Kunstfreunde,
und die Kunst konnte sich ganz im Element derjenigen
geläuterten Sinnesempfindung bewegen, mit welcher, wie

Junger Römer, von lv. Balmer.
 
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