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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 9.1893-1894

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Railleur, Jean: Die neueste Richtung in der Malerei und "Quelque chose" von P. L. Asieurs
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https://doi.org/10.11588/diglit.11970#0054

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Z6

Die neueste Lichtung in der Malerei

und

„(Zu6l<^16 eL086" von P. L. Usieurs.

(Feuilleton der »keuilles voluntesr p)aris. — Übersetzt von N. !N.)

OIIOLb>, »czualclie cosa«, »soiuetliing«,
„Etwas" ist der Titel des ersten Werkes in der
allerneuesten Richtung der Malerei. —

„Einer neuen Richtung?" höre ich Sie fragen.
„Schon wieder einer neuen? Haben wir nicht in der

jüngsten Zeit der neuen Richtungen schon genügend ge-
habt? Hatten wir nicht die Realisten, die Idealisten,
die Impressionisten, diePleinairistenundwiedie „ ...isten"
alle heißen mögen. Bedürfte es darum schon wieder einer
neuen Richtung?"

„Gewiß!" antworte ich Ihnen, „denn diese Rich-
tungen schlugen alle eine falsche Richtung ein, sie richteten
sich nicht nach dem, was allein das Richtige war! Warum
war die neueste, einzig richtige Richtung nicht von An-
fang an? Warum wurde dieses Ei des Columbus nicht
früher entdeckt? Warum erkannten die Maler nicht ihre
Aufgabe, als die Musiker die ihrige erkannten? Hat nicht
die Malerei so gut mit „Tönen" zu thun wie die Musik.
Spricht nicht der Musiker so gut von Klang-„Farbe"
wie der Maler? —

„Gut, und was will sie, diese neue Richtung?"
fragen Sie wieder.

„Aufräumen mit dem alten Zopf. — Aber, er-
lauben Sie, daß ich meinen Vergleich mit der Musik
fortsetze! Reihen nicht diese Töne Akkorde an-
einander, die in ihrer Reihenfolge in uns Stimmungen
Hervorrufen, die uns anregen zu fühlen, zu empfinden?
Nun gut! Fragen Sie zehn Personen, welche eine Sym-
phonie von Berlioz hörten, was sie dabei dachten, und
Sie werden zehn verschiedene Antworten erhalten! Was
wollen Sie? Halten Sie die Pastoral-Symphonie
Beethovens darum für bedeutender, als seine andern, weil
sie uns vorschreibt hier „frohe und freudige Gefühle bei
der Ankunft auf dem Lande nachzuempfinden", weil wir
hier einen „Tanz der Landleute", hier ein „Gewitter"
sehen sollen — weil der Gesang einer Wachtel an einer
andern Stelle recht naturgetreu wiedergegeben ist? Nein

— weg mit dem Programm, weg auch mit dem Pro-
gramm in der Malerei! Zu lange hat sich diese erhabene
Kunst durch die Konvention beherrschen lassen! Hier
haben Sie eine Leinwand, auf welcher deutlich ein Kopf
zu sehen ist, in welchem Sie die Züge des Herrn so
und so erkennen! Hier ist ein Bild, welches
uns zeigt, wie der Genfer See von da und
da aus an einem schönen Nachmittag aus-
sieht (oder auch nicht!). Hier wieder ist ein
Bild, welches uns die Züge Karls V. dar-
stellen soll, als er am Kloster zu St. Inste
anklopfte. Hier wieder sehen Sie auf einem
ziemlich großen Stück Leinwand wie einige
Kohlköpfe, ein paar Rettige, einige Zwiebeln,
eine alte Flasche, ein Schinken in der Natur
gestaltet und gefärbt sind. Und das alles
mit philisterhafter Peinlichkeit durchgeführt!
Weg mit diesem Kohl, in den Rauchfang
mit diesem Schinken, obgleich er schon
schwarz genug ist. Was soll diese plebejische
Deutlichkeit? Fort mit den Programms,
wiederhole ich, fort auch mit den Pro-
gramms in der Malerei, fort daher mit
allem was „Zeichnung" heißt, denn Zeich-
nung ist Programm. Bedenkt, ihr Maler,
daß ihr eine Palette in der Hand habt,
nicht einen Zeichenstift. Den überlaßt dem Illu-
strator! Soll die hohe Göttin der Malerei noch länger
zur Magd des täglichen Lebens herabgewürdigt werden?!
Seht, hierin erblickt diese neue Richtung, die sich noch
keinen Namen gegeben hat, ihre Aufgabe: zu brechen mit
allem alten Schlendrian, darum verwirft sie vor allem
alles, was „Zeichnung" in einem Bilde ist.

Überlaßt dem Beschauer, was er sich bei einem Bild
denken will und wirket auf seine Seele durch Töne, durch
Farbenakkorde und Farbenharmonie und Dissonanzen,
wirkt auf seine Phantasie durch einige Linien, bei denen
er sich denken kann, was er mag. Regt ihn an, aber
übersättigt ihn nicht! Seht, darum steht unsre neue
Schule so hoch erhaben über der alten, wie ein prelucke
von Bach über einem Tingeltangel-Kouplet, wie eine
Symphonie von Berlioz über einer Offenbachiade! —
Aber, erlauben Sie, daß ich Sie vor das Bild
rchuslljue cllass« selbst führe! Was sehen Sie! Auf
den ersten Blick allerdings nichts weiter als Farbenklexe,
hier ein rötliches Braun, hier ein hellbläulicher Ton,
durchzogen von einigen gelblichen und hellroten Linien,
Helle, dunkle, farbige und weniger lebhaft gefärbte Flecken!
Nun wohl, aber treten Sie einige Schritte zurück, noch
einige, bitte! Nehmen Sie Platz auf diesem Fauteuil!
Schließen Sie ein wenig die Augen, schließen Sie sie
ganz! So, recht! Nun bitte, öffnen Sie sie wieder und
blicken Sie unverwandt auf einen Punkt des Gemäldes;
zehn Minuten lang, zwanzig, dreißig Minuten lang,
hundert Minuten lang, bis sich die Flecken beleben, bis
die Linien anfangen ihnen Formen zu geben, bis Ihnen,
was im Bild anfangs rot war, grün erscheint, was blau
war, orange! So — nun lassen Sie die schwellenden

Hund und Dasan. von Lmil wünsche.

Iahresausstellung 189Z der Rünstlergenoffenschaft zu München.
 
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