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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 9.1893-1894

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Woermann, Karl: Raphaels Sixtinische Madonna, [1]
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https://doi.org/10.11588/diglit.11970#0131

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Raphaels Sixtinische Madonna.

c)6

Winckelmann, den Apostel der Nachahmung, beeinflußten Meister in den Klassizismus. Nicht zu den Klassizisten,
sondern zu den Klassikern der Kunst aber gehören Dürer so gut wie Phidias, Holbein so gut wie Michelangelo,
Ruisdael so gut wie Murillo, Rembrandt so gut wie Velazquez, Watteau so gut wie Tizian, Rubens so gut
wie Raphael.

Bei Raphael wollen wir heute verweilen. Bekanntlich bedurfte der große Urbinate längerer Zeit,
um sich aus den Banden der Nachahmung seiner Vorgänger zu befreien und zur Selbständigkeit hindurch-
zndringen. Auch seine freiesten und selbständigsten Werke gelten für seine klassischsten Schöpfungen. Das
freieste und selbständigste von allen seinen Werken ist vielleicht die sixtinische Madonna der Dresdner Galerie.
Kein Wunder daher, daß gerade dieses Gemälde, seit es durch seine Verpflanzung nach Dresden vor 140 Jahren
allgemein zugänglich geworden, von der unparteiischen Nachwelt ziemlich einstimmig als das klassischste, das
schönste, das ergreifendste aller Gemälde Raphaels bezeichnet wird! Man könnte sogar noch einen Schritt
weiter gehen. Man könnte behaupten, daß die sixtinische Madonna das bekannteste und beliebteste Bild der
ganzen Welt sei; man könnte die Ansicht vertreten, daß dieses Gemälde die meisten Stimmen auf sich vereinigen
würde, wenn, wie vor einigen Jahren über die besten Bücher, eine Abstimmung unter allen unbefangenen
Kunstfreunden der Welt darüber ins Leben gerufen würde, welchem Bilde der Preis vor allen übrigen gebühre.
Jedenfalls würde es unter den allerbesten genannt werden. Aber das wären Spielereien. Es fehlt keines-
wegs an greifbaren Thatsachen, die darauf hindeuten, daß der Ruf der sixtinischen Madonna weiter verbreitet
ist als derjenige irgend eines anderen Gemäldes. Man prüfe nur die Schriften der Kunstgeschichtsschreiber
aller Völker und überzeuge sich, welche Stellung sie Raphael unter den Malern, der sixtinischen Madonna
unter Raphaels Gemälden einränmen! Man vergegenwärtige sich die Gedichte, in denen schon allein in deutscher
Sprache dieses Gemälde nicht nur von Verseschmieden jeden Ranges, sondern auch von Dichtern wie Th. Körner,
A. W- Schlegel und Goethe, denen der Philosoph Schopenhauer sich anreiht, begeistert und schwärmerisch
gefeiert worden ist, oder man lese, wenn man es fertig bringt, W. R- Griepenkerls erzählendes Gedicht in
zehn Gesängen „Die sixtinische Maddonna" (Braunschweig 1836)! Man betrachte die Schaufenster unserer
Kunsthandlungen und frage, wenn dies nicht genügen sollte, deren Besitzer, nach den Vervielfältigungen
welches alten Bildes die größte Nachfrage sei! Man sehe sich unter diesen Vervielfältigungen selbst um und
erkunde, welches Einzelgemälde öfter und von besseren Künstlern gestochen, radiert oder lithographiert worden
ist als gerade die Madonna di San Sisto Raphaels! In letzterer Hinsicht ist allerdings anzuerkennen, daß
einige andere beliebte Bilder, denen die Stecher schon seit dem 16. Jahrhundert nahen gekonnt, einen Vorsprung
vor dem unsrigen haben. Die sixtinische Madonna wurde den Stechern eben erst zugänglich, seit sie in
Dresden war. In unserem Jahrhundert aber wird kein zweites Bild sich rühmen können, rasch nacheinander
außer von vielen anderen Meistern, von Stechern wie Friedrich Müller, Boncher-Desnoyers, Moritz Steinla,
Joseph Keller und Eduard Mandel gestochen worden zu sein, denen noch in neuester Zeit Radierer wie W. Unger
und Max Horte sich angerciht haben. Endlich die zahlreichen Einzelschriften über unser Bild, von denen
z. B. eine 1869 in Berlin erschienene Abhandlung des Regierungsrates Humbert geradezu den Titel „Das
Bild der Bilder" führt! Teils von Künstlern, teils von Kennern, teils von Gelehrten, teils von Laien
geschrieben, enthalten sie neben einer Fülle richtiger, feinsinniger und warm empfundener philosophischen, reli-
giösen, ästhetischen und kunstkritischen Betrachtungen auch einen wahren Wust schiefer Auffassungen, falscher
Beobachtungen, gesuchter Bezüge und unverständlichen Wortschwalls. Man fürchte nicht, daß dieser ganze
Beiguß hier wieder aufgewärmt werden solle. Selbst auf so wertvolle Aussprüche und Aussätze über die
Madonna, wie diejenigen der beiden Schlegel, von Quandts, C. G. Carus' und Julius Mosens kann nicht
eingegangen werden. Es ist gerade genug, wenn jeder ausspricht, was er selbst auf dem Herzen hat. Nur
auf diejenigen Abhandlungen kann daher im nachfolgenden noch Bezug genommen werden, aus denen that-
sächliche Belehrung zu schöpfen oder mit denen eine Auseinandersetzung noch heute nötig ist. Aber unsere
Meinung, daß die sixtinische Madonna gegenwärtig das bekannteste und beliebteste Staffeleibild der Erde genannt
werde könne, unterstützen alle diese Schriften.

Einer Entschuldigung bedarf es daher weder für den Wunsch der Leitung dieses Blattes, dem berühmten
Bilde an dieser Stelle eine ausführliche sachliche Würdigung vom Standpunkte unserer heutigen Wissenschaft
aus gewidmet zu sehen, noch für die Bereitwilligkeit, mit welcher der Verfasser dieser Seiten jenem Wunsche
nachgekommen ist.

Betrachten wir zunächst das Bild für sich allein, wie es auf seiner 2,65 in hohen, 1,96 m breiten
Leinwand aus der Hand des göttlichen Meisters hervorgegangen ist! Sofort nehmen Maria und der Jesus-
knabe auf ihrem Arm, die mit ernsten, großen, offenen Augen gerade in die unseren schauen, unsere Blicke
gefangen. Die jungfräuliche Mutter schwebt, fast von vorn gesehen, in ganzer Gestalt ans weißen Himmels-
wolken herab und heran. Sie trägt einen blauen Mantel über hochrotem Untergewande, ein durchsichtiges,
leicht gemustertes Brusttuch und einen braunen Schleier, der sich, vom Luftzug ihrer vorwärts schwebenden
Bewegung geschwellt, hinter ihrem Haupt und ihrer linken Schulter wie ein Segel bläht. Auch der untere
 
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