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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI Heft:
Heft 13 (1. Aprilheft 1900)
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Bartels, Adolf: Tolstojs "Auferstehung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0018

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stoj das mystische Element eine große Rolle, und in „Anna Karenina"
treffen wir die feinste Psychologie; diesmal will Tolstoj nur sittlich und
auf alle wirken, daher macht er alles so einfach wie möglich, Wirknng
und Gegenwirkung solgen unmittelbar aufeinander und gehen restlos in
einander auf, Nechljudow ist nicht viel inchr als ein Experimentier-
objekt. Znm Beweise dafnr sei blotz auf die vielen Stellen hingewiesen,
wo mit nackten Worten gesagt wird: „Es wurde ihm klar, völlig klar,
datz u. s. w." Nechljudow hat einfach die Erkcnntnisse Tolstojs selbst
als unbestreitbar in seine Secle aufzunehmen. Die gewaltige Begabung
Tolstojs zeigt sich in dem Roman aber trotzdem, vor allem in der
Schilderung der russischen Zustünde und der zahllosen Volkstypen. Der
erstcren wegen könntc man an Zola erinnern, der aber meines Erachtens
übertroffen wird: Tolstoj sieht, er schaut, er beobachtet nicht blotz
wie Zola, und so wirkt er viel weniger peinlich, gibt vielmehr plastische
Situationen und abgerundete Bilder. Die Volkstypen aber erhalten fast
alle auch etwas Jndividuelles, obschon der Dichter, namentlich bei der
Schilderung der Revolutionäre üfter Charakteristiken im Stile des Histo-
rikers gibt und bei den Menschen der Gesellschaft — das isr wohl ihre,
nicht seine Schuld — fast konventionell wirkt. Poesie im engeren Sinnc
bringen zahlreiche Stimmungsbilder, in die wohl seine eigenen Erinne-
rungen hineinspielen — der eigene Zauber der russischen Natur, der
starke Erdgeruch, der so viele Werke der Russen auszeichnet, tritt mächtig
in ihnen hervor.

Betrachtcn wir den Roman nicht als Kunstwerk, sondern als
schriftstellerischcs Werk, so gehört er ohne Zweifel zu den mächtigsten
und wirkungsvollsten, die je geschrieben worden sind. Tolstojs Persön-
lichkeit erfüllt ihn von der ersten bis zur lctzten Zeile, und wir möchten
den sehen, der sich ihrem Einflusse ohne weiteres entziehen könnte.
Was in Nechljudow überhaupt lebt, ist Tolstoj, und all die hundert
Menschen und Szenen, dic wir sehen, Tolstoj hat sie mit eigenen Augen
geschaut. Die Geschichte des Romans ist ganz einfach. Nechljudow, ein
junger, reicher Gutsbesitzer, trifft als Geschworener ein Mädchen, das
er einst verführt hat, als Prostituierte und fälschlich des Giftmordes ange-
klagt, auf der Verbrecherbank wiedcr. Er will nun sühnen, retten und
dieses sein Bcmühen lehrt ihn die gesamten russischen Gerichts- und Ge-
füngnisverhältnisse kennen, bringt ihn zuletzt zu der Ueberzcugung, datz
die Gesellschaft gar kein Rechte habe, zu richten und zu verurteilen, und
datz Gericht und Strafe die Verderbnis der Menschheit nur mehren.
Also das neutestamentliche „Richtet nicht, auf datz ihr nicht gerichtet
werdet" ganz wörtlich gefatzt. Aber Tolstoj bleibt bei der Anklage gegen
die Gerichte nicht stehen, er verdammt die ganze „Gesellschaft", die er
als Ausbeutungssystem erkennt, er verdammt die Kirche, die diese Ge-
sellschaft stützt, er tritt vor allem für die Aufhebung des Privateigen-
tums an Grund und Boden ein. Jm ganzen erkennen wir eine auf
dem Grunde des Urchristentums, wie es Tolstoj fatzt, beruhende
radikal-sozialistische Weltanschauung, die, in Wirklichkeit umgesetzt, der
heutigen 5kultur ein Ende bereiten würde. Von unserer Sozialdemokratie
trennt Tolstoj der ausgesprochen agrarische Charakter seines Jdeals
und eben der urchristliche, man könnte viellcicht auch sagen, der puri-
tanische Zug, der, wie ich glaube, den deutschen Sozialdemokraten bei-

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