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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI Heft:
Heft 17 (1. Juniheft 1900)
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Avenarius, Ferdinand: Unsere Lyrik und Mörike
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0169

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'Unsre Lyrik und Mörike.

Nun ist ein Vierteljahrhundert dahingegangen, seit Eduard Mörike

starb.

Auch wer sich der Mängel und Einseitigkeiten unsrer modernen
Literaturbewegung vollkommen bewußt bleibt und selbst wer ihr feindlich
gegenübersteht, wird, will er gerecht sein, ihr einige große Verdienste
nicht abstreiten. Wir greifen eines heraus: sie hat den gebildeten Mann
wieder für Lyrik interessiert. Gewiß, nur den gebildeten, aber vor
zwanzig Jahren beachtete, abgesehen von denen, so da selbst reimten,
nur cin verschwindend kleines Häuflein von Männern die zeitgenössische
Lyrik; man überließ sie den „Jünglingen" und den Damen. Das Be-
wußtsein davon, daß echte Lyrik eine ernste, eine wichtige Sache auch für
den reifsten Mann ist, der mitten im Kampfe des Lebens steht, es war
so gut wie verschwunden; man sprach von den Klassikern zwar mit über-
kommenem Respekt, cinen zeitgenössischen Lyriker aber konnte man sich
kaum ohne Lächeln vorstellen. Kein Zweisel, daß dieses Zurückziehen
der Männerwelt von der Lyrik von schädlichem Einfluß war auf die
Kritik über Lyrik sowohl wie mittelbar auf die Lyrik selbst. Die Kon-
trolle an der Wirklichkeit, die nun einmal der reife Mann am häufigsten
übt, sie war geschwächt. Eine Reim-Literatur, die fast nur eine Schön-
rednerei in Versen war, wurde nicht nur geschrieben, sondern auch von
Kritikern und Literaturgeschichtlern hochgelobt: sie herrschte, ihr entnahm
man die Maße, an ihr übte man sich, und so verlor man das Verständ-
nis für wirkliche Lyrik mehr und mehr. Man muß sich das gegenwärtig
' halten, wenn man in den Literaturgeschichten jener Zeit und wenn man
noch heut in den Literaturgeschichten, die von jenen älteren beeinflutzt
j sind, über Mörike mit ein paar freundlichen Zeilen schnell hinweggehen,
- wenn man fast nirgends eine Ahnung davon aufdümmern sieht, daß
hier ein weit überragendes lyrisches Genie schuf. Aber, wenn es höchst
j überraschend ist, wie langsam Mörikes Ruhm in die Breite wuchs, so
lag doch in diesen Verhältnissen der Grund dafür nicht allein. Nur

Kunstwart Iuniheft ,Zov

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