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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

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Heft 18 (2. Juniheft 1900)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0243

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kiterntur

'Kundscbau

* Verwerter-Lyrik.

Von Anna Ritter ist ein
neucs Gedichtbuch, „Besrciung", soebcn
bei Cotta erschienen. Mag es dcn An-
lah geben, unsre Stellung zu dieser
ganzcn Gattung von Poesie einmal
kurz zu bczeichnen.

Alles eigentlich Geniale in der Tich-
tung, d. h. alles, roas von einer be-
sonders starkcn Persönlichkeit aus den
unbcstimmten Dunkeln des Seelen-
lebens horaufgcwonnen worden ist zum
Licht, zum Ausdruck durch das Wort
— alles das kann, wic wir oft be-
sprochcn haben, zunächst nur von den
Wenigcn erfaht werdcn, deren Geister
durch glückliche Anlage oder Bildung
die bcstvorbcrciteten zu solchcm Nach-
dringen sind. Aber wcnn nur wenige
die Früchtc im Neuland selbsl pflückcn
können, so gibts ja Leute, die das Gang-
barstc davon ins Altland hinein in den
Handel bringen und im Altland sclbst
auch wohl anpflanzen. Jch deute im
Gegensatz zu den Schöpfern wiedcr
auf die .Vcrwcrtcr", von denen wir
im siebcnten Hefte gcsprochen haben.
Diese Popularisiercr brauchen kcine
lyrischen Schauspicler zu scin, wie z. B.
Rittershaus odcr Julius Wolff waren,
es könncn auch achtbare Talente der
äußcrn sprachlichcn Form sein, Talente,
die mit gutcr Anlage für Nhythmus
und Neim in gutem Glaubcn arbeiten.
Es sind nicht ctwa Plagiatoren, auch
unbewutztc Erinnerungen brauchen bci
ihncn im Einzclnen keine Rollc zu
spielen — es sind Poetcn, die zu Autzen-
und Jnncnwelt kcin urwüchsig eigenes
ästhetischcs Verhältnis haben, sondern
cincs, das von dcn selbständigcn Vor-
läufcrn übcrall mitbestimmt wird.
Sie sind in der Hauptsache Nach-
empfinder dessen, was die llrsprüng-
lichen vorempfundcn habcn. Abcr sie
empfindcn und gestaltcn nach, was und
wie bcscheidene Naturen ersassen können,
finden infolgedessen ein viel breiteres

Publikum als die großen Einsamen
und sind für dieses Publikum nicht ohne
Nutzen. Ueberflüssig, schädlich, sobald
einer zu den Ursprünglichen selber hin-
gelangen kann, tragen sie ja zunächst
dazu bei, dasjcnige, was von diesen
Ursprünglichcn übcrhaupt für „weitere
Kreise" erreichbar ist, diesen wcitcren
Kreisen zuzuführcn. Leser, die Storm,
Mörike, Hebbel, Keller als Lyriker kaum
dcm Namen nach kennen, genießen
dann des ihnen erreichbaren bescheide-
nen Teils dieser Ursprünglichen, indem
sie beispielsweis glauben, Karl Busses
oder Anna Ritters zu genießen. Und
da Gelehrsamkeit und Kunstgefühl zwei
sehr verschicdcne Dinge sind, so fehlen
in solchen Fällen auch die Kunst- und
Literaturgelehrten nie, die hier besser
als bei den Ursprünglichen mit ihrem
Nachfühlen mitkönnen, ja, die hier erst
wirklich ganz und gar genießen.
Eben dcshalb rufcn sie dann auch wohl
in sroher Zuversicht: sehct da, ein Genie!

Anna Ritter nlso, die das vorlie-
gende Buch verfaßt hat, gehört unsrer
Meinung nach cbcnso wic Karl Bussc,
dcm es gewidmet ist, zu dicscn Ta-
lcnten des Vermittelns. Es ist vieles
Hübschc, es ist manches recht Hübschc
auch in diesen flicßend und wohl-
klingend gereimtcn Strophcn, die un-
zwcisclhast eine Mcngc Menschey wirk-
lich erfrcucn und da und dort sogar
crbauen werdcn. Aber wie bei Karl
Busse ist allcs nur Nachhall; scheinbar
neue Töne cntstehen nur, wo sich der
Nachhall oon verschiedcnen Seitcn
hcr mischt. Wo die Stimmung
nicht mit frcmdcn Saiten mitschwingen
kann, tritt sofort an Stelle der Dar-
slellung Bcsprechung. Jn Anna Nitters
ganzer Pocsie habe ich so wenig wie
in derjenigen Busscs auch nur ein
einzigcs „befreiendes Wort" für ein
bisher noch nicht in Worte gefaßtes
Gesühl gefunden. Ursprüngliche Ge-
fühlc, .Urgefühle", die nur aus der
2. Iuniheft lyoo
 
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