Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1900)
DOI Artikel:
Volbach, Fritz: Die Zukunft unserer Chormusik, [2]
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0147

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die Lukuntt uuserer Lbormusik.

Schlutz.

Meiner Ansicht nach ist uns bereits der Weg gezeigt, aus welchem dieses
allein möglich ist. Hat Liszt mit seiner Elisabeth das alte Oratorium abge-
schlossen, so hat er in seinem Christus dafür eine Leuchte für die Zukunst
aufgesteckt. Der Christus ist der Markstein des neuen Oratoriums. Hier
hat Liszt die neue Form gefunden, aber nur dadurch, daß cr sie aus
dem Stoff heraus entwickelt hat. Jn einer Reihe grotzer erhabener
Vilder stellt sich das Ganze dar. Die Handlung selbst kommt gar nicht in
Betracht. Jedes Bild spricht einen grotzen Gedanken einheitlich und geschlossen
in breitcm Pathos aus. So lose die einzelnen Bilder aber auch neben ein-
ander stehen, alle werden sie verknüpft durch eine gemeinsame erhabene Jdee,
das unsichtbare und doch stets fühlbare Walten des Heilands. Die einzelnen
Teile des Werkes gleichen goldenen Strahlen, die wie von einer Sonne, von
ihm alle ausgehen, Segen und Heil spendend. Hier kann und mutz der Chor
wiedcr in den Vordergrund treten und kann sich in einer Breite entfalten,
welche die des altcn Oratoriums noch übertrifft. Wie verschieden aber sind diese
Chöre von denen srüherer Werke! Das Hauptbestreben unserer Zeit ist in der
Kunst ein Zusammenfassen des Stoffes, ein K o n d e n s i e r e n. Die vicrsützige
Symphonie hat der durchkomponierten symphonischen Dichtung weichen müssen,
auch die breiten Fugen und fugierten Sätze mit ihren vielen Textwiederholungcn
vermögen uns bei neuen Werken nicht zu intercssiercn, man begnügt sich, alles
möglichst kurz zu sagen und einmal, es sei denn, datz besondere ästhetische
Rücksichten eine Textwiederholung rechtfertigen. So kommt es, datz Texte, die
inhaltlich früher zu einem ganzen Oratorium ausgesponnen worden wären
und auch ausgesponnen sind, nun in ihren Hauptideen und Gedankcn zu
einem einzigcn Bilde zusammengefatzt werden müssen, wie das fast jeder
Teil des Christus lehrt. Der so entstehende Gedankenreichtum in verhältnis-
mätzig engem Raum ermöglicht aber allein ein entsprechendes musikalisches
Schaffen im modernen Sinne. Jst der Stoff selbst gegeben und in dieser Art
gestaltet, so wird die Form sich, gerade wie das bei der symponischen Dichtung
der Fall ist, als notwendige Konseguenz ergeben: mit andern Worten, dieser
Stoff trägt die Form in sich selbst. Das bedeutet natürlich nicht Form-
losigkeit, sondern im Gegenteil höchste Vollendung der Form. Das
ist aber das Grundgesetz moderner Kunst, die Befreiung der Form
von der Formel, der Schablone.

Von größtcm Einfluß und treibender Wirkung auf die moderne Chor-
musik ist aber auch die reiche Palette unseres heutigen Orchesters. Die Mög-
lichkeit, Stimmungen bis ins Feinste zu malen, tonmalerische Wirkungen bis
zur Drastik zu steigcrn, sind Errungenschaften, an denen kein Komponist acht-
los vorübergehen wird. Hat die heutige Orchestration auf die Form des
Chorstücks unleugbar Einfluh ausgeübt, so aber noch viel mehr auf die Um-
gestaltung der Schreibweise für den Chor selbst. Man hat Beethoven bei
seiner Messe und der IX. Symphonie vor allem den Vorwurf gcmacht, seine
Chorstimmen seicn instrumental. Jch habe das nie finden können. Bcethoven
war gezwungcn, seinem Orchester mit seinen vielen neuen Farbcn, auch den
Chorklang anzupassen, beide Faktoren sich durchdringen und ergänzen zu
lasscn. Damit wächst die Aufgabe des Chores von selbst, die sämtlichen
Mittel der Stimme müssen ausgenutzt werden, um in ihrer Farbengebung

2. INaihcft 1900

135
 
Annotationen