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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1900)
DOI Artikel:
Lublinski, Samuel: Ein Schulbeispiel des Naturalismus
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0380

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Sprecbsaal.

Lin Schulbcispiel des Natnvalisinus.

Noch immec haben wir den Natnralismus lange nicht so überwundcn.
wie wir uns einbilden und es eigentlich auch gethan haben sollten. Trotz aller
Sehnsuchtsrufe nach der großen Kunst kann man sich immer noch nicht zu der
klaren und einfachen. freilich sehr resoluten ästhetischen Wahrheit emporringen:
Der Naturalismus an und für sich hat rnit der Kunst nichts zu schaffen.
Er kann im besten Fall ein einzelnes und sehr gewichtiges Jngredienz eines
Kunstwerkes sein, zu dem aber noch viele, sehr viele andersartigc Elementc
hinzukommen müssen.

Wir alle wissen nachgerade, daß die Zahlformel 2 X 2 —-l cine unum-
stößliche Wahrheit enthält, die man immer im Auge behalten muß, wenn man
in der Rechenkunst zur Meisterschaft gelangen will. Und allcnfalls wird es
wohl einmal nötig und nützlich sein, irgend einen spitzfindigen Kopf, der nur
noch mit den unendlich Großen und unendlich Kleinen ivirtschaftet, an die
schlichte Wahrheit des Einmaleins zu erinnern. Abcr wärc damit das Urtcil
gerechtfertigt: nur das Einmaleins sei die Rechenkunst oder wcnigstens ihr
einzig wichtiger Jnhalt? Gewiß nicht. Denn nur dic Kombination von
Zahlen, die zwar nach bestimmten Gesetzen stattfindet, zugleich aber in unauf-
hörlicher Mannigfaltigkeit ins Unendliche hinein sich abwickelt, ist die Rechenkunst,

Und so ist es überall. Auch das Leben ist eine Kombination und ein
Zusammenspiel unendlich mannigfaltigcr Faktoren, ganz gleichgültig, ob es
sich um das unendlich Große oder um das unendlich Kleine handelt. Darum
muß das Kunstwerk, und wäre es nur ein vicrzciliges Gedicht oder eine Skizzc,
in sich selbst etwaS von diescr Uncndlicheit des Lcbens wenigstens ahncn lasscn-
Der Naturalismus abcr, und das ist scinc größte Sünde, will jede Kombination
unterbinden, jede Mannigfaltigkeit verwischen und dieses unendliche Lebcn auf
eine einzige Formel reduzieren. Wir wissen ja schon, auf welche. Allcs, waS
über die primitivsten Funktionen des Essens, Trinkens, Fortpflanzens hinaus-
geht, wird nach Kräften ausgemerzt oder zu cinem bedcutungslosen Anhängsel
herabgedrückt.

Jn Wirklichkeit freilich, in der praktischen Kunstübung, schlägt der
„naturalistische Künstler" — dieses Wort ist ein Widerspruch in sich — der
Theorie wider Willen immer ins Gesicht. Jhm zum Trotz dringt das Leben
in sein Werk hinein und mit diesem Leben auch die Mannigfaltigkeit. Aber
was dabei doch immer fehlt, das ist das wichtige Zusammenspiel aller Elemente
des Kunstwerks. Dcr Künstler starrt wie hypnotisiert immcr auf eincn Punkt,
beobachtet nur ein einziges Element und treibt es über Gebühr heraus. Die
anderen Elemente, die sich durch Hinterthüren hincingcschlichen haben, stehen
an einem ganz falschen Platz, und es kommt nirgcnds eine rcchtc Wechsel-
wirkung, ein voller Zusammenklang dcs Lebens zu stande.

Dieses Urteil gilt für jedes naturalistische Kunstwerk, und ich getraute
mir nachzuweisen, daß selbst die bcrühmtestcn Produktionen dicser Art, Haupt-
manns ^Wcber" nicht ausgenommen, irgendwo ihren Knacks, wcnn ich so sagen
darf, weghaben, der nicht aus individucllen Mängcln dcr dichterischcn Bcgabung,
sondern aus dem Wesen deö Naturalismus selbst heruorgeht. Aber wozu in
die Ferne schweifen, da doch das Gute so nahc liegt? Dicses laufcnde Literatur-
jahr hat uns eine ganz wundervolle Neinkultur dcs allcrcchtesten Naturalismus
bescheert, die ich mir in keinem Fall entgehen lassen möchte. Jch meine Klara
Vunstwart
 
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