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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

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Heft 24 (2. Septemberheft 1900)
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Avenarius, Ferdinand: Zu Friedrich Nietzsches Tod
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Lublinski, Samuel: Hebbel und Nietzsche
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0445

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gethan, die Bedeutung des Einzelnen, der Persönlichkeit klar zu machen.
Das wollen denn doch auch wir bedenken, die wir das Genie nur als
die Blüte des Ganzen auffassen, wir, denen deshalb das Volk keine
verächtliche Masse ist, wir Aristokraten zwar, aber Sozialaristokraten.

Hat uns Nietzsche zum Segen gelebt oder zum Fluch?

Uns ist, als sähen wir den Weltgeist lächeln darüber, dah auch
hinter dem, der alles Herdenwesen haßte wie keiner vor ihm, eine
Herde von Janern läuft, deren ein jeder sich als kleinen Uebermenschen
fühlt. Eine Herde von Uebermenschen — klingt das Wort wie eine
Gefahr? Sie wird vorübertraben, diese Gefahr. Bleiben aber werden
von Nietzsche nach allem, was aus seinen Werken erlöschen wird, der
Gedankenkrgstalle genug, die Licht in sich tragen, der Demantgedanken und
Sterngedanken. Bleiben werden die sprachlichen Gebilde seiner dichterischen
Prosa, dieser Sprache, die ihre Wörter zu Worten beseelte, dah sie ihre
Aussage nun noch zu deuten scheinen wie mit Geberden und Mienen.
Und bleiben wird im Geisterreich unsrer Toten diese ganze stolze Gestalt,
aus deren Augen wie von keinem Mitlebenden her das echte Feuer
Faustens glühte. Was soll das heihen: hat Nietzsche uns zum Segen gelebt
oder zum Fluch? Sorgen wir dafür, daß wir selber gesund sind, wahr-
haftig gegen uns, dadurch selbständig und also stark — dann wird uns
jeder Große zum Segen und auf die Dauer nur zum Segen sein.

A.

Debbel und Metzscbe.

Friedrich Hebbels groher Vorgänger, Heinrich von Kleist, erlebte
seine erste grohe Verzweislung, als er die Kantische Philosophie kennen
lernte. Als ihm aufging, daß es keine absolute Wahrheit gäbe. Gut
und böse, schwarz und weiß — diese starrcn und klaren und unverrück-
baren Gegensätze waren ursprünglich die eigentliche Lebensluft für Kleist,
der mit seinen geistigen Jnteressen durch und durch ein Sohn des auf-
geklärten achtzehnten Jahrhunderts blieb. Wenn er als Dichter schließlich
und gewaltig über diese Sphäre hinauswuchs, so doch nur gleichsam
wider Willen und unter unerhörten Seelenqualen. Er hat es im
innersten Empfinden nie verwunden, daß alle menschliche Erkenntnis
rein relativ sein sollte, bcdingt durch die subjektiv-menschlichen Bewußtseins-
formen: Raum und Zeit.

Fast ein halbes Jahrhundert später kam ein anderer großer und
moderner Dramatiker, der damals auch noch erst im Werden war, ganz
von selbst, ohne Ahnung und Kenntnis der Kantischen Philosophie, auf
den Gedankcn, daß Naum und Zeit nicht wesentliche Eigenschaften der
Dinge sclbst wären, sondern nur menschliche Bewußtseinsformen. Er-
staunlich und, fast möchte man sagen, unbegreiflich. Selbst eine so
außerordentliche Begabung wie die des jungen Hebbel genügt nicht zur
Erklärung dieser überraschenden Thatsache. Selbst cin philosophisches
Genie vom allererstcn Rang, wie es bishcr noch nicht dagewesen ist,
würde sich, wenn es wild aufwächst und zunächst ohne jede Kenntnis
bisheriger wissenschaftlicher Errungenschaften verbleibt, von den sogenannten
„natürlichen" Bedingungen nie befreien können. Ein künftiger grüßter
Astronom aller Jahrhunderte wird sicherlich in seiner Kindheit, bevor er

2. Septemberheft tIvo
 
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