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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

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Heft 14 (2. Aprilheft 1900)
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Avenarius, Ferdinand: Die Kunstparagraphen der Lex Heinze
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Bartels, Adolf: Neue Romane
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0060

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Leser crfaßt, daß die Vcrletzung des Schamgesühls nur nus dem Mangel
scines Verstäuduisses kam. Jhr thut sehr rccht damit, aber ihr
seid etwas unkonsequent. Denn seht, eurc jetzige Novelle zur Hebung
der Sittlichkeit crinnert uns an eine Mutter, die ihrem Jungcn immer
mehr Tücher um den Hals wickelt, je leichter er sich crkültet. Ab-
härten, meinen ivir, wäre besser. Wer aufgewachsen ist im Verkehre
mit einer Kunst reiner Nacktheit, wir dürfens den Herren aus Ersah-
rung versichern, den ekclt's einfach bei Schmutzproduktcn — gefnhrlich
sind sie ihm wirklich nicht. Und wcr darin gettbt ist, in echten Dichtungcn
die Seele des Ganzeu zu sehn, die alles zusammenhält und regiert,
der sieht es mit — Verwuudcrung, wenn der Blick eiues Betrachters
sich von irgend einem Nebenteilchen vor Entrüstung gar nicht losreißen
kann. Und wer vor der Bühne mit Julia und Ophclia und Grctchcn
zu fühlen gelernt hat, der ist nicht nur vor deu Barrisons gefeit,
ihm ist auch weiß Gott in der Brust zu warm, als daß cr viel auf
sein Schamgefühl acht gäüe, wenn etwa das große Schicksal droben über
ein hüßliches Wort hinschreitet. Erziehung, das Wesentliche in den
Kunstwerken zu sehn, ästhetische Erziehung, das ist es allcin, was nach
und nach die Schamverletzungen durchs Mißverstehn bekämpfcn kann.
Helft uns dabei, macht uns Platz, gebt uns Mittel, aber hindert uns
nicht dabei!

Möge dieses Uuheil am deutscheu Volke vorübergehn! Wahrlich,
wir wünschten das aufrichtig, sonst arbeiteten wir nicht dagegen, sonst
wären wir nicht hicr. Aber das sagen wir jetzt schon: ginge es uicht
vorübcr, würden auch diese Kunstparagraphen Gesetz — ein Gutes hätte
auch das. Wie noch nichts anderes seit das Deutsche Reich besteht, würde
es an die geistig Lebendigen eine Mahnung sein, sich zusannnenzuschließen,
um künftig mit ganz anderer Entschiedenheit als bisher im öffentlichen
Lebeu mit zu wacheu und mit dreinzureden. Für diese Sache fiele
für uns jeder politische Parteiunterschied weg: endlich eimnal stündcu
Deutsche für ein geistigcs Gut von dcr ünßersten Linken bis zur äußcrsten
Rechten fest uebcneinander im Kampf. Wir würden nicht rasten, bis
jcne Zeileu im Deutschen Gesetzbuch, bis jencr Makel wieder ausgelöscht
wäre auf dcr Stirue des Volks, dns man einst das Volk der Dichter
und Denker genannt hnt. Jahrzehntelang haben die Gegner gewirkt,
wir von der Kunst, ivir standen beiseite und haben nicht eimnnl ordent-
lich zugesehn. Jetzt ist es uns, als wenn, noch aus dcr Fernc, eine
nahende dunkle Not uns ricfc. Kommt sie wirklich, so kommen auch
wir. llnd habcn nuch wir erst zehn Jahre lang mitgemacht, dann
wollen wir sehen, ob wir nur mehr das Volk Roerens sind oder auch noch
das Dürers und Goethcs. A.

Oeue Noinrme.

Nian künute vielleicht den Ausdruck „Ltzriker-Romau" prägen —
er würde in unserer Zeit vielsach anzuwenden seiu. „Ltzrischer Roman"
im Anschluß an die schon lüngst gebrauchte Gattungsbezeichnung „Ltzrisches
Drama" — in Paris gibt es oder gab es ja sogar ein 'l'böatrL Ivrl^uL
— iväre nicht dasselbc, so künntc man vielleicht sogar den „Werther"
nennen, der doch ein echter Roman ist. Das sind die Ltzriker-Romane-
Aunstwart

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