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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

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Heft 15 (1. Maiheft 1900)
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0124

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vidualitäten solche Kombinationen fin-
den? Was in aller Welt hat denn
Jndividualität und persönliche Größe
mit mathematischen Jntervallen zu
schaffen? Und rvarum muß diese Per-
sönlichkeit überdies auf dunkler Ge-
mütsfarbe, auf durchstürmter Seele
okuliert sein? Ja, sogar eine scheinbar
so einfache und leichte Sache wie Vers
und Reim, scheinbar eine bloße Spie-
lerei, ivarum gelingt das vollendet
nur bei stark bewegter, erschütterter
Seele?

Und wenn denn, was ich nicht an-
zweisle, Kunstschönheit ein Ding für
sich ist, unabhängig von Religion,
Moral, Weltanschauung u. s. w., wie
kommt es, daß wir sast ausnahmslos
bei den großen Künstlern ein rkerhalb
oder wenigstens außerhalb liegendes
Ueberzcugungsagens, eine Lebensidee
treffen, welche ihnen zum wirklichen
oder vermeintlichen Leitstcrn diente,
ohnc welche sie ihr Bestes nicht hätten
ihun können oder mögen? Wie kommt
es endlich, wenn doch schließlich die
Madonna della Sedia nur eine Rö-
merin mit Kind, die Venus von Medici
nur eine korinthische Hotüre, eine Ti-
zianische Venus nur eine venezianische
Patrizierin darstellt, wie kommt es,
daß, wer auch immer eine römische
Mutter, eine griechische oder auch nicht-
griechische Hetäre, eine venezianischc
Patrizierin unmittelbar zu malen sich
vornimmt, niemals diejenige Schön-
heit, dasjenige hohe Kunstwerk erreicht,
wie wenn er sich dazu des Umwegs
über die Mythologie oder über die
kirchliche Legende bedient? Er könnte
ja eigentlich, aber cr kann nicht-

Jch möchte mich mit Erklärungs-
versuchen nicht beeilen, denn sie sind
ungemein schwierig, da sie in dio tief-
sten Tiefen der Psychologie führen,
dorthin wo Nervenfäden und Seelen-
sädcn verzwirnt sind. Jndessen es ist
etwas anderes, Rätsel lüsen und Rütsel
bemerken. Jn Ermanglung der Lösung
sind wir darum nicht befugt, das Rätsel
llunstwart

zu verbergen odcr abzustrciten. Das
Rätsel aber lautet, um es noch einmal
deutlich zu formulieren:

Auf der einen Seite fteht wohl für
jeden Nachdenkenden heutzutage fest,
daß alle Künste auf objektiven Schön-
heitselementen und bleibenden üsthe-
tischen Gesctzen ruhen, die nachgewiesen
werden können oder doch könnten und
die auch zum Teil nachgewiesen sind,
wie z. B. in der Musik durch die Har-
monielehre.

Anderseits ift die Möglichkeit, jene
objektiven Schönheitselemente zu fin-
den, sich jener bleibenden üsthetischen
Gesetze zweckmäßig zu bedienen, an die
Voraussetzung gebunden, daß einer eine
außerordentliche Persönlichkeit sei, fer-
ner an die Bedingung, daß er mit auf-
geregter Seele schaffe, cndlich scheint
irgend ein fremdartiger Leitstern nötig
zu sein, — um die Kraft oder den Willen
der schöpferischen Persönlichkeit nach-
haltig aufzustöbern- Die Qualität des
Leitsterns scheint weiternicht inBetracht
zu kommen; Kantscher Rationalismus
thut bei Schiller densclben Dienst wie
katholische Schwärmerei bei Tasso;
überhauptherrschtdadiegrößteMannig-
faltigkeit. Den Einen leitct Freiheits-
und Humanitätsbegeisterung (Schiller,
Beethooen, Shelley u.s.w.), andere die
Religion (Tasso, Milton, Bach u.s.w.),
andere eine in idealer Verklärung ge-
schaute Vorwelt (Dante, die französi-
schen Tragiker u.s.w.), andere und zwar
sehr viele die Liebe zu einem beliebigen
Menschen-Mädchen (Klopstock u. s. w.),
Ja, was man kaum glauben solltc:
die bloße äußere Anlehnung an eine
sremde Jdealmacht thut zuweilen den-
selben Dienst, z. B- dio Anlehnung der
Renaissancekünstler an die Kirche und
an die gricchische Mrsthologie. Alles
das und Aehnlichcs scheint die künst-
lerische Schöpferkraft zu stärken; und
zwar in hüherem Grade, als es der
rein ästhetische Glaube dcs Künstlers
an seine Kunst vermag. Nicht als ob
letzterer nicht zur Not genügte, verhült
 
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