auszulebcn. Max Klinger, an den sich auch das Wiedererwachen der
Griffelkunst iir Deutschland knüpst, hat sich von Berlin und Nom in
seine Vaterstadt Leipzig zurückgezogen und schafft dort in ruhiger Abge-
schicdenheit. Hans Olde lebt jahraus jahrein auf seinem einsamcn Gut
in Holstein. Eine Worpswcdcr, eine Dachauer Schulc haben sich an
einsamen Orten gcbildet. Ju Frankfurt hat seit eiuigen Jahrzehnten
Hans Thoma, mit seiner Schwarzwaldheimat in engstcr Berührung
bleibend, seine eigcnartige, crst in jüngster Zeit volkstümlich gewordene
Kunst entwickelt, in manchcn Zügen scinem alemannischen Stainmes-
gcnossen Arnold Böcklin verwandt, der, von Geburt Schweizer, seine
künstlerische Heimat in Deutschland fand, und dessen Persönlichkeit sich
am Ende des Jahrhundcrls in Deutschland die Herrschaft über die ganze
Jugend erobert hat.
Somit dürste die künstlerischc Entwicklung des ncuen Jahrhunderts
das Schauspiel eincs Kampfes zwischen dcn Kräften zcigen, die nach der
Reichshauptstadt ziehen, und denen, die überall in dcn alten Stammes-
zcntren crwachen.
Es gibt eine Reihc verdicnstvoller Versuche, die Geschichte der
dcutschcn Kunst dcs neunzehnten Jahrhunderts darzustcllen.
Aber so sorgfältig sie das bisher vorliegende Material an Vor-
arbciten bcnutzt haben, so wenig haben sie den Jnhalt der Epoche
erschöpfen und die Größcnverhältnisse der Erscheinungen endgültig sest-
legen konnen.
Denn der reiche Stoff ist heute noch viel zu wenig bclannt und
viel zu wenig durchgearbeiter. Die geläufigen Namen der an den
Akademicn thätig gewescncn Meister erschöpfen ihren Jnhalt bei weitem
nicht. An allcn Orten, selbst in den Akademiestädtcn, haben Künstler
gcwirkt, die heute gründlicher vergessen sind, als hüttcn sie im füuf-
zehnten Jahrhundcrt gearbeitet, und die in Zukunft neben und vor
viclen dcr bisher als führend gcltendcn Künstler ihren Platz einnehmen
werden.
Wo immcr in dcn letzten Jahren die vrtliche Forschung eingesetzt
hat, konntcn solche Künstler nachgewiesen werden, deren besondere Art
sie ungeeignet machte, unter den vestehenden Verhältnissen im Wettkampf
zu siegen. Fast alle diese Krästc, die von der Zukunft vielfach als dic
Träger der deutschen Kunsr des neunzehnten Jahrhunderts angesehen
werden dürften, schufen außerhalb des Zusammenhangs mit dcr öffent-
licheu Kunstpflege. Wcnn schon in Paris, wo sich allcs zusammcn-
drängtc, dic ursprünglichcn Geister im Gegensatze zu der populären und
dcr offiziellcn Kunst standcn, war dies in noch weit hühcrem Maßc in
Deutschland dcr Fall, denn zu dem akliocn Moment des kräftigcn Wider-
standcs und der Bekümpfung kam das in Paris fast ausgcschlossene und
vicl wirksamcre ncgative des Todschweigcns, Uebersehcns und Vergessens.
Jn Paris beobachtet das sranzösische Leben beständig und sehr genau
sich selbst. Der Deutsche ist noch immer viel zu schr mit dcr Kunst und
dcm Lebcn des Auslandes beschäftigt, als daß ihm nicht in der nüchsten
Hcimat sehr vieles und ost sehr Bedeutendes entgeht.
Es ist noch nicht an der Zeit, die Namen dieser Vergessenen und
Uebersehencn zusammcuzustcllen. Wcnn erst das mcite Gcbiet überall
durchforscht ist, wird die deutsche Kunstgeschichte des ncunzchnten Jahr-
2. Augustheft tyoo
Griffelkunst iir Deutschland knüpst, hat sich von Berlin und Nom in
seine Vaterstadt Leipzig zurückgezogen und schafft dort in ruhiger Abge-
schicdenheit. Hans Olde lebt jahraus jahrein auf seinem einsamcn Gut
in Holstein. Eine Worpswcdcr, eine Dachauer Schulc haben sich an
einsamen Orten gcbildet. Ju Frankfurt hat seit eiuigen Jahrzehnten
Hans Thoma, mit seiner Schwarzwaldheimat in engstcr Berührung
bleibend, seine eigcnartige, crst in jüngster Zeit volkstümlich gewordene
Kunst entwickelt, in manchcn Zügen scinem alemannischen Stainmes-
gcnossen Arnold Böcklin verwandt, der, von Geburt Schweizer, seine
künstlerische Heimat in Deutschland fand, und dessen Persönlichkeit sich
am Ende des Jahrhundcrls in Deutschland die Herrschaft über die ganze
Jugend erobert hat.
Somit dürste die künstlerischc Entwicklung des ncuen Jahrhunderts
das Schauspiel eincs Kampfes zwischen dcn Kräften zcigen, die nach der
Reichshauptstadt ziehen, und denen, die überall in dcn alten Stammes-
zcntren crwachen.
Es gibt eine Reihc verdicnstvoller Versuche, die Geschichte der
dcutschcn Kunst dcs neunzehnten Jahrhunderts darzustcllen.
Aber so sorgfältig sie das bisher vorliegende Material an Vor-
arbciten bcnutzt haben, so wenig haben sie den Jnhalt der Epoche
erschöpfen und die Größcnverhältnisse der Erscheinungen endgültig sest-
legen konnen.
Denn der reiche Stoff ist heute noch viel zu wenig bclannt und
viel zu wenig durchgearbeiter. Die geläufigen Namen der an den
Akademicn thätig gewescncn Meister erschöpfen ihren Jnhalt bei weitem
nicht. An allcn Orten, selbst in den Akademiestädtcn, haben Künstler
gcwirkt, die heute gründlicher vergessen sind, als hüttcn sie im füuf-
zehnten Jahrhundcrt gearbeitet, und die in Zukunft neben und vor
viclen dcr bisher als führend gcltendcn Künstler ihren Platz einnehmen
werden.
Wo immcr in dcn letzten Jahren die vrtliche Forschung eingesetzt
hat, konntcn solche Künstler nachgewiesen werden, deren besondere Art
sie ungeeignet machte, unter den vestehenden Verhältnissen im Wettkampf
zu siegen. Fast alle diese Krästc, die von der Zukunft vielfach als dic
Träger der deutschen Kunsr des neunzehnten Jahrhunderts angesehen
werden dürften, schufen außerhalb des Zusammenhangs mit dcr öffent-
licheu Kunstpflege. Wcnn schon in Paris, wo sich allcs zusammcn-
drängtc, dic ursprünglichcn Geister im Gegensatze zu der populären und
dcr offiziellcn Kunst standcn, war dies in noch weit hühcrem Maßc in
Deutschland dcr Fall, denn zu dem akliocn Moment des kräftigcn Wider-
standcs und der Bekümpfung kam das in Paris fast ausgcschlossene und
vicl wirksamcre ncgative des Todschweigcns, Uebersehcns und Vergessens.
Jn Paris beobachtet das sranzösische Leben beständig und sehr genau
sich selbst. Der Deutsche ist noch immer viel zu schr mit dcr Kunst und
dcm Lebcn des Auslandes beschäftigt, als daß ihm nicht in der nüchsten
Hcimat sehr vieles und ost sehr Bedeutendes entgeht.
Es ist noch nicht an der Zeit, die Namen dieser Vergessenen und
Uebersehencn zusammcuzustcllen. Wcnn erst das mcite Gcbiet überall
durchforscht ist, wird die deutsche Kunstgeschichte des ncunzchnten Jahr-
2. Augustheft tyoo