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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 13,2.1900

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Heft 23 (1. Septemberheft 1900)
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Avenarius, Ferdinand: Können wir reisen?
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https://doi.org/10.11588/diglit.7960#0406

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Jch könnte die Reihe dieser kleinen Aufzeichnungen sehr oerlängern,
aber jeder, der reist, beobachtet ja ähnliches. Und keinen verwundert's
— man ist dran gewöhnt. Möglich immerhin, daß gerade in dieser
Gewöhnung eine gewisse Gefahr liegt, und daß man sich wieder einmal
darauf besinnen sollte, welcherlei Reisen eigentlich uns am besten för-
dern könncn! Von der Wichtigkeit des Reisens sür die ästhetische Bildung
des Einzelnen im Hinblick auf die mannigfachen Seiten des Naturgenusses
haben wir früher an dieser Stelle gesprochen. Vergegenwärtigen wir
uns heut wieder einmal, was zumal das Reisen im Auslande wohl
sonst noch besonders fruchtbar machen könnte.

Was mir an den Reisenden, die ich traf, aufsiel, war zunächst
ganz allgemein die geringe Fähigkeit zu beobachten. Etwas, worauf
nicht der Bädecker oder fonst jemand aufmerksam machte, mußte schon in
hohem Grade auffällig sein, fonst sahen sie's gar nicht. Hatten fie mal
etwas beobachtet, so wurde der Einzelfall sofort in kindlicher Weise ver-
allgemeinert, und ganz felten betraf er Wesentliches. Es sehlte Methodik
des Hörens und Sehens und Praxis im Schlüsseziehn. Die Gleichgültig-
keit gegen die Landschaft, dic man an den Mitreisenden auf der Eisen-
bahn studieren kann, geht außer auf die mangelhafte Entwicklung des
ästhetischen Sinns ja auch auf diese Mängel zurück — wie könnte sich
sonst einer langweilen, der ofsnen Sinnes bei Tage durch irgend ein
Land fährt? Aber das Beobachten und Beachten ist uns eine Mühe, wir
thun's, wenn es sein muß, bewußt wie eine Arbeit. Wir müßten daran
so gewühnt sein, daß wir ganz ohne ans Beobachten zu denken, einen
neuen Eindruck sofort als solchen empfinden. Jn vorgeschrittenem Alter
ist's allerdings nicht leicht, sich durch zunächst bewußtes Aufmerken diese
Thütigkeit gleichsam zu mechanisieren. Hier liegt ein Erziehungs-
mangel vor.

Nun kann ja jede Reise, besonders aber die zu einem andern Volk,
recht ausgenutzt werden allein durch das Vergleichen. Das ist klar
bis zur Banalität in diescm Zeitalter der vergleichenden Methoden, so
daß man sich schämen möchte es auszusprechen. Aber wie sieht es bei
der Bethätigung des allgemein anerkannten Grundsatzes aus? Jn
Frgnkreich kann man nicht „dritter" reisen, lautet ein Lehrsatz, da sind
kleine Leute, Arbeiter, Bauern — freilich, aber ist es nicht gerade „das
Volk", was uns vorzugsweise interessieren sollte? Die Lehren und Regeln
unsrer Reisebücher und ihre Gasthofempfehlungen — alles geht darauf
aus, den Reisenden möglichst wenig ins fremde Milieu zu versetzen, wenn
sie immer wieder davon reden, was bei den oberen Zehntausend der
Millionenstadt für fein und vornehm gilt, und in welchen Hotels man
auf dcutsche Besucher cingerichtet ist. Die „obern Zehntausend" brauchen
dem Besucher eines fremden Volkes wirklich nicht die wichtigsten und
maßgebenden zu sein, und in Gasthäusern, die auf Deutsche eingerichtct
sind, sieht man nicht viel von den Franzosen.. Aber alles scheut bäng-
lich die Unlust, welche das erste Einleben in eine fremdartige Umgcbung
mit sich bringt, eine Unlust, die doch schon nach zwei Tagcn ernstlichen Be-
mühens durch die Freude am wachsenden Verstnndnis zchnfach vergolten
würde. So lernt man von der Art und Weise, vom Leben und Treiben
des sremden Volkes auf kürzeren Neisen so gut wie gar nichts kennen.

Man beschränkt sich auf die „Sehenswürdigkeiten".

Uunstwart
 
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