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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Hart, Hans: Wunderkinder [1]: Roman
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https://doi.org/10.11588/diglit.54883#0153

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LLL-r-LELELLELLLLLEI Wunderkinder 117

und der alte Fliederbaum das luftige Volk
in den violetten Kleidchen beherbergte. Ein
Wiegen und Wogen lief die Geigensaiten
entlang, wie Binsen am See sich neigen,
wenn der Wind landwärts fliegt und den
plumpen braunen Köpfen Nasenstüber gibt.
Der kleine Junge träumte sich in die alten
Märchen hinein, die Großvater Samuel
auf seinem Sonnenbänkchen ihm und der
Miriam erzählt, und fand sich so ganz von
selbst in das Wesen der G-Dur-Sonate
von Meister Johannes Brahms. Zum
erstenmal strich die goldene Schönheit wie
eine schlanke Frauenhand über seine Kinder-
stirn. Es blieb ganz still im Zimmer, als
das Stück zu Ende war. Nur der Herbst-
wind summte die letzten Akkorde nach.
Dann eilte der Bub zu seinem Lehrer,
schmiegte sich an den plumpen Gesellen und
sagte nur: „Das war schön." Da tat der
gute Joseph das Dümmste, was er tun
konnte. Voll Bewunderung antwortete er:
„Das habe ich nie gekonnt. Unberufen,
Karl Maria, du bist ein Genie."
Wie Gift drangen diese Worte dem
schönen Knaben ins Blnt, daß er den Kopf
zurückwarf und fragte: „Darf ich das
Stück nicht bald vor den Leuten spielen?"
Joseph merkte die heranschleichende Ge-
fahr und lenkte ab. „Nein, Karl Maria,
noch lange nicht. Schau, ich habe zu früh
mit den Konzerten begonnen, das tut nicht
gut. Man wird eitel und lernt nichts mehr."
Doch das Wunderkind lachte trotzig.
„Ach was, vielleicht ist das bei mir ganz
anders!"
Von der Tür her fragte die Stimme der
Miriam: „Kann er denn eigentlich schon
etwas ?" Würdevoll, wie eine kleine Dame,
trat sie heran, die klugen schwarzen Augen
nachdenklich zum Bruder aufgeschlagen.
Zwölf Jahre war sie nun alt. Hoch auf-
geschossen, ungraziös und dabei dürr wie
eine Wildkatze, das hübsche Gesicht sommer-
sprossig und in voller Wandlung begriffen
vom Kind zur Jungfrau. Die alte, zier-
liche Miriam war tot und die neue noch
lange nicht fertig. Das gab dem wilden
Ding einen ganz pikanten Reiz.
Als Joseph seinen Schüler lobte, nickte
die Miriam sehr herablassend, hing aber
doch ihren Blick in heimlicher Bewunde-
rung an die junge Schönheit des Freundes.
Plötzlich stampfte sie zornig mit den Füßen

und zischte: „Du bist schön und ich, ich
werde alle Tage häßlicher! Warum nur?"
Dabei heulte sie los, verbarg ihr Gesicht
in der Schürze und seufzte gar jämmerlich.
„Alle sagen's im Theater. Und in der
Quadrille muß ich jetzt ganz hinten tanzen,
weil ich zu große Füße habe! Wenn ich
bloß so fett sein könnte wie die Mutter!"
Der Joseph schmunzelte über dies erste
kleine Frauenleid. „Na, Schwesterleben,
ich geb' dir gern von meinem Speck ab."
Doch sie fuhr ihm mit allen zehn Fingern
ins Gesicht und kratzte, daß er ihr die
Hände grob herabschlagen mußte. Gleich
darauf kam der Katzenjammer, und sie bat
ganz demütig um Verzeihung: „Ich kann
nichts dafür. Ich bin so unglücklich!"
„Ich hab' dich lieb, Miriam," sagte
der schöne Karl Maria feierlich.
Sie ließ sich eine Weile trösten, dann
aber machte sie sich mit einem Ruck los,
kreuzte die mageren Arme und sagte ver-
bissen : „Paß auf, ich werde noch ein ganz
großes Tier wie die Ermattinger, und
wenn ich Tag und Nacht hungern müßte."
Sie warf gnädige Blicke um sich, als
hätte sie schon jetzt ihre Gunst zu ver-
schenken, und reckte dann jäh nach alter
Miriamart die Zunge heraus. „ So, Joseph,
jetzt kannst du mich ins Theater führen,
es ist Zeit für mich. Heute ist die ,Pup-
penfee^. Adieu, Karl Maria."
Er wollte ihr noch die Hand geben,
doch sie schlug ihm die Tür vor der Nase
zu. Karl Maria versorgte nachdenklich
seine Geige, legte die Noten zusammen
und schloß das Klavier. Nein, die Miriam,
das war eine. Regen und Sonnenschein
dicht nebeneinander. Dummes Mädel!
War sie denn wirklich so häßlich und er — ?
Dunkelrot und scheu blickte er sich um und
huschte vor den Spiegel. Mit geheimem
Zittern schlug er die Augen auf. Das war
also der Karl Maria Tredenius, Schüler
des Grauen Gymnasiums Klasse 18, dem
die kleinen Bürgerschülerinnen bewundernd
nachguckten, wenn er stolz und lässig an
ihnen vorüberschritt.
Da steckte Jacques Italiener den ge-
schniegelten Katzenkopf ins Zimmer. „Bist
du da, Karl Maria?"
Jacques trug einen engen, tadellosen
Gehrock und eine schöne blaßblaue Kra-
watte, das fahlblonde Haar war kunstvoll
 
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