118 Hans Hart:
gescheitelt. Längst war er ja nicht mehr
Auslagenarrangeuer, sondern erster Ver-
käufer in seinem Modewarengeschäft, eine
erstklassige Kraft, nach der schon die Kon-
kurrenz auslugte. Aber Herr Jacques zö-
gerte noch. Die neue Stelle war nur durch
Einheirat zugänglich, und einstweilen hatte
er mit der Liebe noch anderwärts genug
zu schaffen. Langsam und würdevoll schritt
er auf den kleinen Geiger zu. „Kann man
sich auf dich verlassen?"
„Ja," sagte Karl Maria eifrig, der es
Jacques nicht vergaß, daß er ihm zu seiner
ersten Zigarrenkistengeige verhalfen hatte.
„Du sollst Amors Bote sein," erklärte
der gebildete Jacques im Tonfall eines
beliebten jugendlichen Heldenspielers. Er
besuchte der Toiletten halber fleißig die
großen Theater. „Diesen Brief gibst du
deinem Fräulein Schwester."
Der Bub lachte laut los. „Was brauchst
du der Martha Briefe zu schreiben, wenn
du sie schon hundertmal im Garten geküßt
hast und ihr immer Pakete bringst?"
„Dummer Bub!" schrie Jacques wü-
tend, lenkte aber gleich mit rotem Kopf
ein: „Also, wirst du den Brief deiner
Schwester zuverlässig in die Hand geben?
Es braucht niemand davon zu wissen."
„Ja," antwortete Karl Maria und
fühlte sich doch als großer Sünder vor
seiner guten Mutter. Aber damit wagte
er dem kecken Jacques nicht zu kommen;
und sein gelungenes Geigenstück machte
ihn heute so froh, daß er aller Welt etwas
Liebes tun wollte. Jacques reichte ihm
ein Geldstück, doch Karl Maria warf es
ihm vor die Füße. „Was glaubst du
denn?"
Der freigebige Jacques Italiener lächelte
dumm, hob sein Geld sorgsam auf und
nagte ärgerlich an den Schnurrbartenden.
W R R
So kam der kleine Tredenius in das
erste Liebesgeheimnis. Und seine Wichtig-
keit tat sich nicht wenig darauf zugute.
Feierlich übergab er seiner Schwester den
Brief. Die Martha war ein schlankes, pi-
kantes Mädel geworden, mit klugen, hüb-
schen Veilchenaugen, mit dunkelroten Lip-
pen, denen sie gerne mit Rot nachhalf.
Seit zwei Jahren war sie bei der Post an-
gestellt, doch hielt angebliche Kränklichkeit
sie oft vom Amte fern. Da halfen dann
ihre nichtsnutzigen Augen und ihr elegantes
Parfüm den Zorn der Vorgesetzten be-
sänftigen.
„Daß du Mutter nichts von diesem
dummen Wisch sagst, Bubi." Sie streckte
die schlanken, gepflegten Hände nach Karl
Marias Ohren.
„Hast du den Jacques lieb?" fragte
der Junge.
„Ach, Gott, ja, vielleicht auch das."
Sie dehnte die Arme, gähnte laut und
seufzte. Mit halbgeschlossenen Augen sah
sie den Bruder an. War das ein schöner
Kerl geworden! ,Es liegt wohl in der
Familie/ dachte sie und lächelte stolz.
Dann setzte sie sich vor Mutters Schreib-
tisch und suchte nach einem Briefbogen.
Über die Schulter fragte sie leichthin: „Bist
du schon weit in deinem Geigenspiel?"
Der Junge sollte sich nur ja nicht einbil-
den, er hätte die Martha Tredenius jetzt
in der Hand. Karl Maria wurde ganz
blaß vor Schrecken.
„Ja, glaubst du, ich weiß das nicht?
Der Jacques hat mir's doch längst er-
zählt."
„Dann ist er gemein," entschied Karl
Maria.
Martha lachte. Sie hatte ihre Antwort
fertig. „So, das gib dem Judenjüngel."
Dem Knaben stieg eine feine Röte ins
Gesicht: „Pfui, Martha! Dann steh doch
nicht immer mit ihm im Garten!"
„Das verstehst du nicht, Bubi. Paß
lieber auf. Du wirst jetzt mein Page.
Aber schweigen mußt du, sonst—" Sie
zeigte die weißen Zähne und zog die dun-
kelgetuschten Brauen hoch — „sonst sag'
ich dem Vater, was du bei den Italieners
treibst. Die Schläge kriegst du dann ganz
allein. Und mit deiner Geige ist's alle.
Mir kann das ja ganz egal sein."
„Ich will nichts sagen," keuchte der Bub
und griff nach dem Brief. —
Um die Dämmerung spielte Frau Lis-
beth wie jeden Tag mit ihrem Jungen
vierhändig. Diese eine heimliche Abend-
stunde spann der einsamen Frau einen
Goldschimmer um den grauen Werktag.
Sie merkte freilich bald, daß seine flinken
Finger längst gewandter und voller griffen
als ihre arbeitsharten Hände, die einst so
zart und elastisch gewesen. Heute vermied
der Junge ihren Blick und wühlte sich
gescheitelt. Längst war er ja nicht mehr
Auslagenarrangeuer, sondern erster Ver-
käufer in seinem Modewarengeschäft, eine
erstklassige Kraft, nach der schon die Kon-
kurrenz auslugte. Aber Herr Jacques zö-
gerte noch. Die neue Stelle war nur durch
Einheirat zugänglich, und einstweilen hatte
er mit der Liebe noch anderwärts genug
zu schaffen. Langsam und würdevoll schritt
er auf den kleinen Geiger zu. „Kann man
sich auf dich verlassen?"
„Ja," sagte Karl Maria eifrig, der es
Jacques nicht vergaß, daß er ihm zu seiner
ersten Zigarrenkistengeige verhalfen hatte.
„Du sollst Amors Bote sein," erklärte
der gebildete Jacques im Tonfall eines
beliebten jugendlichen Heldenspielers. Er
besuchte der Toiletten halber fleißig die
großen Theater. „Diesen Brief gibst du
deinem Fräulein Schwester."
Der Bub lachte laut los. „Was brauchst
du der Martha Briefe zu schreiben, wenn
du sie schon hundertmal im Garten geküßt
hast und ihr immer Pakete bringst?"
„Dummer Bub!" schrie Jacques wü-
tend, lenkte aber gleich mit rotem Kopf
ein: „Also, wirst du den Brief deiner
Schwester zuverlässig in die Hand geben?
Es braucht niemand davon zu wissen."
„Ja," antwortete Karl Maria und
fühlte sich doch als großer Sünder vor
seiner guten Mutter. Aber damit wagte
er dem kecken Jacques nicht zu kommen;
und sein gelungenes Geigenstück machte
ihn heute so froh, daß er aller Welt etwas
Liebes tun wollte. Jacques reichte ihm
ein Geldstück, doch Karl Maria warf es
ihm vor die Füße. „Was glaubst du
denn?"
Der freigebige Jacques Italiener lächelte
dumm, hob sein Geld sorgsam auf und
nagte ärgerlich an den Schnurrbartenden.
W R R
So kam der kleine Tredenius in das
erste Liebesgeheimnis. Und seine Wichtig-
keit tat sich nicht wenig darauf zugute.
Feierlich übergab er seiner Schwester den
Brief. Die Martha war ein schlankes, pi-
kantes Mädel geworden, mit klugen, hüb-
schen Veilchenaugen, mit dunkelroten Lip-
pen, denen sie gerne mit Rot nachhalf.
Seit zwei Jahren war sie bei der Post an-
gestellt, doch hielt angebliche Kränklichkeit
sie oft vom Amte fern. Da halfen dann
ihre nichtsnutzigen Augen und ihr elegantes
Parfüm den Zorn der Vorgesetzten be-
sänftigen.
„Daß du Mutter nichts von diesem
dummen Wisch sagst, Bubi." Sie streckte
die schlanken, gepflegten Hände nach Karl
Marias Ohren.
„Hast du den Jacques lieb?" fragte
der Junge.
„Ach, Gott, ja, vielleicht auch das."
Sie dehnte die Arme, gähnte laut und
seufzte. Mit halbgeschlossenen Augen sah
sie den Bruder an. War das ein schöner
Kerl geworden! ,Es liegt wohl in der
Familie/ dachte sie und lächelte stolz.
Dann setzte sie sich vor Mutters Schreib-
tisch und suchte nach einem Briefbogen.
Über die Schulter fragte sie leichthin: „Bist
du schon weit in deinem Geigenspiel?"
Der Junge sollte sich nur ja nicht einbil-
den, er hätte die Martha Tredenius jetzt
in der Hand. Karl Maria wurde ganz
blaß vor Schrecken.
„Ja, glaubst du, ich weiß das nicht?
Der Jacques hat mir's doch längst er-
zählt."
„Dann ist er gemein," entschied Karl
Maria.
Martha lachte. Sie hatte ihre Antwort
fertig. „So, das gib dem Judenjüngel."
Dem Knaben stieg eine feine Röte ins
Gesicht: „Pfui, Martha! Dann steh doch
nicht immer mit ihm im Garten!"
„Das verstehst du nicht, Bubi. Paß
lieber auf. Du wirst jetzt mein Page.
Aber schweigen mußt du, sonst—" Sie
zeigte die weißen Zähne und zog die dun-
kelgetuschten Brauen hoch — „sonst sag'
ich dem Vater, was du bei den Italieners
treibst. Die Schläge kriegst du dann ganz
allein. Und mit deiner Geige ist's alle.
Mir kann das ja ganz egal sein."
„Ich will nichts sagen," keuchte der Bub
und griff nach dem Brief. —
Um die Dämmerung spielte Frau Lis-
beth wie jeden Tag mit ihrem Jungen
vierhändig. Diese eine heimliche Abend-
stunde spann der einsamen Frau einen
Goldschimmer um den grauen Werktag.
Sie merkte freilich bald, daß seine flinken
Finger längst gewandter und voller griffen
als ihre arbeitsharten Hände, die einst so
zart und elastisch gewesen. Heute vermied
der Junge ihren Blick und wühlte sich