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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Neues vom Büchertisch
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Carl Busse: Neues vom Büchertisch 149

sphären. Laut, bestimmt, rücksichtslos, mit
brutalen Kinnbacken versehen, nehmen sie
an den vollen Tischen des Lebens Platz.
Jedes Wort von ihnen ein Hieb, jeder Hände-
druck ein Griff. Vielleicht hat Hans Hart
diese Eigenschaften etwas zu stark unterstrichen.
Die erdrückende Wucht und Macht der Willi-
guths glaubt er zweimal sogar mit —
Elefantenvergleichen illustrieren zu müssen.
Der Gewaltigste des gewaltigen Geschlechts
ist der Geheimrat Philipp Emanuel, der große
Chirurg. Und gerade er, der Mann aus
einem Guß, hat zu seinem Kummer einen
Sohn, der nur ein Halber, ein Zerfahrener,
ein unruhig Flackernder ist. Erdrückt von der
Größe und Selbstherrlichkeit des Vaters, ist
dieser Heinz Williguth ein unfreier Mensch
geworden. Er ist sehr begabt, aber er hat
nie die Möglichkeit, seine Fähigkeiten selb-
ständig zu entfalten, er wird immer und
überall an die zweite Stelle gedrängt, er
muß im Hause ebensogut wie im Beruf hinter
dem Vater zurückstehen, er zerbricht in seinem
Selbstvertrauen und hat doch dabei den stolzen
Ehrgeiz seines Geschlechtes, so daß er bald
verzweifelnd alles gehen läßt und verschlossen
vor sich hinbrütet, bald in wahrem Fanatis-
mus an die Arbeit stürzt, immer maßlos,
immer schwankend, immer unsicher. Mit
August von Goethe darf er gestehen: „Ich
habe Vater, ja, ich habe Frau, ich habe
Kinder auch, doch keinen Freund." Über-
haupt drängen sich die Parallelen zum Goethe-
schen Hause an allen Ecken und Enden vor.
Auch in Heinz Williguth kommt ruckweise
und flackrig das Wesen des Vaters durch,
ohne daß das Flackern zum Leuchten würde;
auch er spricht ein bitteres Wort über das
Gängelband, an dem er geleitet wird, über
die Söhne großer Männer, die „vielleicht gar
nicht sein sollten"; auch er fühlt sich fremd
im eigenen Hause und erlebt es, daß die
eigene Frau mehr zu seinem Vater hält, als
zu ihm; auch er weiß schließlich nichts Besseres,
als sich in Ausschweifungen zu ruinieren.
Und groß und gefaßt wie einst der alte Ge-
heimrat in Weimar nimmt auch der alte
Geheimrat Philipp Emanuel die endliche
Schicksalserfüllung, den unrühmlichen Tod
seines Einzigen, hin. Der treue Schückedanz,
sein „Eckermann", bringt ihm die Nachricht.
Sowohl nach der gestaltenden wie nach
der psychologischen Seite hat das Buch von
Hans Hart große Vorzüge. Die machtvoll
in den Vordergrund drängende Figur des be-
rühmten Chirurgen ist von Anfang bis Ende
stark durchgehalten; zahlreiche Charakter-
köpfe, mit sorgfältiger Liebe modelliert, er-
scheinen neben ihr, etwa der des knorrigen,
musikgewaltigen Greises Johann Sebastian.
Die alte Apollonia, die zwölf Kinder geboren
hat und sich keines davon nehmen lassen will,
der ergebene Assistent Schückedanz mit seinem
Goldfisch „Röschen", die Hausdame Flora
Schirlitz haben nicht minder lebendigen
Odem. Und auch zu mancher Szene sagt
man wohl leise Bravo, etwa zu jener, in der

die starken und fruchtbaren Frauen der Willi-
guths beim Einmachen sind.
Das Aber fehlt natürlich auch hier nicht.
Schon in dem gewählten Problem bergen
sich allerhand Fallstricke. Läßt sich das Schick-
sal August von Goethes oder das des jungen
Williguth in der Hauptsache wirklich daraus
ableiten, daß sie die Söhne von Genies sind?
Wer will das glatt behaupten? Die „Halben"
liegen nicht nur in Adlernestern, wenn sie
hier auch am meisten auffallen. Die Tragödie
des „Erben" ist schließlich nur die übliche
Tragödie des Schwächeren, bloß daß sie sich,
allen sichtbar, auf glänzendem Grunde ab-
spielt. Hans Hart hat den Widerstreit von
Vater und Sohn verschärft, indem er beide
eng nebeneinander in das gleiche Haus, in
den gleichen Beruf stellt. Aber man fragt
sich heimlich immer: Warum geht denn der
junge Williguth nicht auf und davon? Warum
folgt er nicht dem englischen Arzt, der einen
tüchtigen Kerl aus ihm machen will? Warum
verläßt er nicht eine Gemeinschaft, die ihn
nur hemmt und erdrückt? Doch nicht, weil
sein Vater zu viel, sondern weil er selbst zu
wenig ist! Mit dem Genie seines Erzeugers
hat das nichts mehr zu tun. Nun könnte
der Dichter allerdings dem entgegenhalten,
daß der „Erbe" eben schon früh durch die
Größe und Selbstherrlichkeit des Vaters in
seiner Selbständigkeit geknickt ward. Aber
das sehen wir nicht, das erleben wir nicht.
Sondern wir haben von vornherein einen
Ganzen und einen Halben, einen Star-
ken und einen Schwächling vor uns. Die
Partie ist eigentlich da schon zu Ende, wo
Hart beginnt. Es gibt keinen Kampf, über
dessen Ausgang man zweifelhaft sein könnte.
Es wird niemand auch nur einen Hosen-
knopf auf den jungen Williguth wetten.
Und deshalb fehlt uns auch das tiefere In-
teresse für ihn.
Das Beste ist, daß es dem Erzähler ähn-
lich geht und daß sich ihm unter der Hand
der Schwerpunkt völlig verschiebt. Das auf-
gegriffene Thema verlangte durchaus, daß der
Sohn, der „Erbe", die Hauptperson abgab.
Er ist es, in dem sich die tragische Entwick-
lung vollzieht, er ist es, der leidet, der in
Konflikte gerät, der vernichtet wird. Auf
ihm mußte die ganze „Handlung" des
Romans beruhen, nur in bezug auf ihn hatte
das Genie des Vaters Bedeutung, es durfte
bloß wie ein Riesenschatten auf den Weg
des eigentlichen Helden fallen. Hans Hart
jedoch benutzt seine ganze Kraft dazu, den
überlegenen Starken zu zeichnen und alles
Licht auf ihn, den Fertigen, Beharrenden,
zu versammeln, so daß er nicht nur im Leben,
sondern auch im Buche dem Werdenden und
Schwankenden Licht und Luft wegnimmt.
Mit dem Manne aber, der das eigentliche
Problem illustriert, tritt naturgemäß auch
das Problem selbst mehr und mehr zurück,
und es ist ferner klar, daß Handlung und
Entwicklung darunter leiden, wenn ihr natür-
licher Träger in eine Nebenrolle gedrängt
 
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