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Velhagen & Klasings Monatshefte — Band 28, 1.1913/​1914

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Neues vom Büchertisch
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Carl Busse:

wird. Aus dem „ Erben " der Titanen wird
deshalb „das Haus" der Titanen; das Zu-
ständliche überwiegt; anstatt in die Höhe ent-
wickelt sich der Roman allzusehr in die Breite.
Es ist ein Zeichen für seinen inneren Wert,
daß man trotzdem die Stunden nicht bereut,
die man ihm gewidmet hat.
Von einem Organistensohn erzählt auch
ein zweites österreichisches Buch — ein sehr
merkwürdiges Buch, vor dem man nicht weiß,
ob es mit hundert lyrischen Glockentönen
eine Dichterlaufbahn einläutet oder hinter
gefühlvollem Gebimmel nur schöpferische Un-
kraft verbirgt. Ein Uomo novus der Ver-
fasser: Franz Rebiczek; schnörkelig der
Titel: „Das Leben und das Sterben
des berühmten Harfenisten Maria
Eusebius Zittersamm" (Wien 1913,
Karl Konegen), und schnörkelig alles, was
dahinter folgt. Ein wilder Birnbaum, ein
Rosenstrauch, eine Dreifaltigkeitssäule stehen
am Anfang; neben einer verstimmten Harfe
liegt ein neugeborenes, von irgendwelchem
Volk ausgesetztes Knäblein, und der I-6A6Q8
eUori Theosphorus Zittersamm, der mit Stößer
und Schnallenschuhen des Weges kommt,
nimmt es auf und bringt es seiner Alten.
Dieser Findling ist der spätere Harfenist, aber
wenn ich nun weiter von ihm berichten sollte,
käme ich in die ärgste Verlegenheit. Über
die weiße Wand scheinen unscharf eingestellte
Bilder einer Laterna magica zu zittern;
farbig, doch seltsam unrißlos huschen Gestalten
und Szenen vorüber; Tauf-, Hochzeits- und
Totenglocken klingen; die Brunnen der ver-
schollenen freien Reichsstadt Popesam rauschen
in Mondnächten, Musikanten lachen und
weinen, und weil die Mädchen so schön und
so schlecht sind, weil die Welt so verrückt und
das Leben so heiß und wild und grausam ist,
zieht einer in die Ferne, spielt Lieder und
wird ein Narr, als welcher er sich „am Park-
gitter von Mortungen den Kopf einlaufen
muß, wie alles das etwas wert ist".
Sollte jemand diese Sätze nicht besonders
klar finden, so muß er sich bei Franz Rebiczek
beklagen und nicht bei mir. Offenbar hat
dem Österreicher rechts Jean Paul und links
Wilhelm Raabe über die Schulter gesehen,
als er die Historia und Biographie des aller-
berühmtesten Musikanten geschrieben hat, und
jeder hat ihm weniger seine Art, als seine
Unart vermacht. Das ganze Buch spricht
dem „schriftstellerischen Kontrapunkt" gerade-
zu Hohn, es gestaltet nicht, sondern redet nur,
es umflicht sozusagen mit wehmütigen oder
ironischen, mehr bedeutsamen als bedeutenden
Worten einen wirren, ungreifbaren Traum.
Den aufmuckenden Realisten, die festere Kost
verlangen, sagt es lächelnd, daß „das Beste
auf der Welt nicht außen, sondern wie bei
einem Lungenstrudel drinnen liegt", aber
diese Weisheit sättigt nicht, und der Normal-
mensch will mit Recht auch Klöße haben,
nicht bloß Tunke. Mindestens ein dutzend-
mal steht man davor, den berühmten Harfe-
nisten ins literarische Veinhaus zu stoßen,

doch dann tauchen plötzlich aus dem Nebel
der Gestaltlosigkeit kleine stille Eilande auf:
in der versunkenen Stadt schlagen die Uhren
und sagen der Nacht müde die Zeit an, in
Vorstadtbrunnen spiegelt sich der Mond,
Weinberge blühen und Wanderer singen, alte
Schlösser steigen hoch und schön aus Wäldern,
das Wehr rauscht, und der Wind weht wie
von Anbeginn der Welt über die Straßen
der Erde. Da scheint ein Posthornklang
Eichendorffscher Romantik herüberzutönen,
und zögernd läßt man das Mordbeil sinken:
vielleicht, vielleicht spricht hier doch ein junger,
verworrener Dichter! Aber auf der nächsten
Seite schwört man Stein und Bein, daß uns
nur ein Manierist an der Nase herumgeführt
hat. Warten wir Weiteres ab!
Wir kämen nun zu einem „Roman von
1813" — zu einem der vielen, die das Erinne-
rungsjahr gezeitigt hat. Besonders Er-
freuliches habe ich in dieser Literatur noch
nicht entdecken können, und der Frage, warum
das so ist, wollen wir lieber aus dem Wege
gehen. Das Buch, das vor mir liegt, heißt
„Deutschland marschiert" (Berlin 1913,
E. Fleische! L Co.), und das Interesse be-
ginnt nicht bei diesem Titel, sondern erst bei
dem Autornamen Kurt Martens.
Dieser Kurt Martens nämlich, ein 1870
geborener Leipziger, ist bisher immer grau-
sam stolz gewesen. Er hat dich, lieber Leser,
der du dieses Heft durchblätterst, mich, der
ich dieses schreibe, und ungezählte andere
stets furchtbar verachtet. Wir sind ihm zu
brav, zu bürgerlich, zu wenig „erlesen"; wir
stehn der „rustikalen Sittlichkeit und völkischen
Kultur" zu nahe, wir sind eben „diese Leute
vom Volk", denen ein Grandseigneur nichts
mitzuteilen hat. Er kehrt uns den Rücken,
er wünscht nicht von uns gelesen zu werden,
er kann die „nützlichen Glieder der mensch-
lichen Gesellschaft" nicht ausstehen, er will
nur von ein paar versprengten Edelleuten,
ein paar exquisiten Juden und einigen Stu-
denten gehört werden, alles andre ist ihm
„Crapüle", und Popularität ist ihm direkt
ein „Charakterfehler". Unleugbar hat er diesen
Fehler bisher sehr erfolgreich vermieden: ich
könnte mir sonst die Vorstellung ersparen.
Wie die meisten Obersachsen, wie auch sein
Meister Nietzsche neigt er stark zu romanischer
Kultur — kein andres deutsches Land hat
ja immer so leicht und schnell den Anschluß
an Frankreich gefunden wie Sachsen und
sein Klein-Paris. Es konnte deshalb auch
keinen wundern, daß der enorm aristokratische
Kurt Martens, den nur ein plumper Zufall
in eine bürgerliche Wiege gelegt hatte, sich
dem Kreije von Stefan George näherte, sich
in artistischen Raffinements versuchte, viel
von Kultur, Stil, „adliger Lust" fabelte und
in Hugo von Hofmannsthal Krone und Perle
deutscher Dichtkunst sah.
Um so erstaunter steht man vor seinem neuen
Werke. Wie kommt Saul unter die Propheten?
Wie dieser Kurt Martens zu 1813? Wie der
elegant-snobistische Kunstfanatiker, der das
 
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