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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0005
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Ssseszeiknrg für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Ginsheim, Sppingen, ESerbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxverg,
Tauberbifchofsheim und Wertheim.


NexMjSprei«: Monatlich einschl. Trägrrlohn l.«vMt„ durch di« Post
öezozcn monatlich l.b«Mk., vierteljährlich 4.8« M. ausschl. Zustellung.
NpP-iMiprei-e: Oie einspaltige prtitzeile ! ZS mm breit) Kfg., Re.
tkrsi-Aiizeigen (SZ mm breit) 1.8« Mk. Äei Wiederholungen Nachlaß
A-ch Tarif. Geheimmittel-Anzeigeu werden nicht ausgenommen.
PMcheckkonto Karlsruhe Nr. 22277. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Freitag, 2. Januar M20
Nr. -1 » 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere politik,Vollswirtschaft u. Feuilleton: Gr.
E.Krau«i für Kommunales u. soziale Rundschau: I.Kohn;färLokaleär
O. Geisel; für die Anzeigen: H. Hoffmann, sämil ch in Heidelberg.
Druck und Verlag der ilnterbadischen Derlagsanstolt G. m. v. H„ Heidelberg,
Geschäftsstelle: Gchröderstraße 39, Fernsprecher 2S7Z? Redaktion: 2H4»,
Geschästsstunden: 8—'/,ü ühr. Sprechstunden der Redaktion: 11—12 Lkdr,

Politische Übersicht
Der Reichspräsident zum neuen Jahr.
Berlin, 31. Dez. (Eig, Drahtmeldung.) Der Reichspräsident bat
tzen Reichskanzler folgende Kundgebung zum Neujahrstage zu veröffent-
lichen:
8m »ergangene» Vahr wurde zwar der Chaos abgewehrt und die
Einheit des Reiches erhalten und gefestigt. Indessen muhte unter dem
Druck rücksichtslosen Zwanges ein Friede geschloffen werden, der die Ehre
unseres Bottes, seinen Wohlstand und die Früchte vergangener und künf-
tiger Arbeiter fremder Gnade zu überantworten droht. Das heute be-
ginnend« Jahr mutz entscheiden, ob die Deutscheu trotz allem als Nation
and Staat sich zu behaupten Höften können, oder durch inneren Hader,
dem sich äußerer Haß zugesellt, im endgültigen Zusammenbruch auch die
Hoffnung ihrer Kinder begraben müssen.
Diese Schicksalsfrage vor Augen, bitte ich heute Alle, die sich Deul-
fche nennen, in der gemeinsamen Not die Reihen zu schließen und jeder
an seiner Arbeitsstelle für de» Wiederaufbau unseres Vaterlandes das
Aeutzerfte zu tun.
Reichspräsident Ebert.
. -
Sie balgen sich schon.
Kaum hat der Leipziger ll.S.P.-Parteitag ein ziemlich ob e r-
f sächliches Kompromiß zwischen den verschiedenen Gegen-
sätzen zustande gebracht, da balgen sie sich schon wieder in ihrer
eigenen Presse herum. Nach den ziemlich resignierten Artikeln
Hsiferdings nahm Däumig in der „Freiheit" das Wort zu einer
Artikelserie über die Geschichte der Ll.S.P., in welcher die etwas
gemäßigteren Genossen seiner Partei sehr schlecht wegkommen. Er
behauptet ihnen gegenüber u. a.: „daß die reformistischen und op-
portunistischen Traditionen der alten Partei noch nicht völlig aus
den Köpfen vieler Parieigenoffen geschwunden sind."
Gegen solche Verdächtigungen wendet sich jetzt in der „Frei-
heit" Däumigs Parteigenosse, Ledebour: „D ä u m i g ist nun
in einer Parteipolemrk bereits so t i e f g es u n k e n, daß er gegen
seine eigenen Parteigenoffen Mittel amvendet, die er selbst auf das
schärfste gebrandmarkt hat, als sie in der Kriegszeit uns allen gegen-
über ein ständiges Requisit der Regierungspreffe waren."
Nach einigen Worten über Ströbel, den Ledebour voll-
ständig fallen läßt, versucht er eine Ehrenrettung Hsiferdings.
»Man mag ihn sachlich widerlegen. Aber es ist eine ausgesuchte
Perfidie, ihn nach der Däumigschen Methode durch solche beweis-
losen Zustimmungszitate aus ungenannten gegnerischen Zeitungen
diskreditieren zu wollen."
Die Hauptmeinungsvetschiedenheit, die Ledebour selbst von
Däumig trennt ist die Steilung zum Parlamentaris-
in u s. Darüber sagt er:
„Ich befinde mich in Ilebereinftimmung mit der Resolution zur Tak-
tik. Ich bin einverstanden damit, daß wir die Diktatur des Proletariats
durch das Rätesystem zur Durchführung des Sozialismus erstreben. Ich
habe in jenem Artikel aber auch meiner Genugtuung darüber Ausdruck
gegeben, daß die Resolution dem „antivarlamentarischen
Spuk" ein Ende macht. Das ist Däumig unbehaglich. Begreiflich!
Er selber war der Haupturbeber dieses Spuks. Er hat sich unter dem
Druck -der parteigenöffischen Gegenkritik wieder zurückgemausert bis zu
dem Standpunkt, den wir Unabhängigen Sozialdemokraten von je ein-
genommen haben, daß nämlich zwar ein Parlament der kapitalistischen
Aera den Sozialismus nicht verwirklichen kann, daß wir aber in allen
diesen Parlamenten, solange sie bestehen, uns betätigen müssen im revo-
lutionären Sinn. Um allen Vertuschungsbemühungen ein Ende zu ma-
chen, muß doch betont werden, daß Däumig vor wenigen Monaten noch
mir pomphafter Gebärde den konsequenten Antiparlamenkarismus bis zum
Austritt aus den Parlamenten und sogar den Gemeindevertretungen ge-
fordert hat. Wäre nun wirklich sein «etziges Bekenntnis zur parlamentari-
schen Beteiligung offen u. unumwunden, so könnte man an ihm Freude ha-
ben wie an jbeem reuigen Sünder. Leider hat er aber in der Bezirksver-
sämmlung von Berlin-Brandenburg sich wieder ein Hintertürchen geöff-
net, indem er nach dem Bericht der „Freiheit" die Bemerkung gemacht
hat: „Man ist jetzt noch zu sehr eingestellt auf die alte Betätigungs-
parole . Eine Tradition läßt sich nicht im Handumdrehen beseitigen; es
bedarf dazu intensiver Aufklärungsarbeit." Aus dieser „Blüte" werden
»un die kommunistische» Antiparlamentaricr Honig laugen und solche
Parteigenoffen, die, von Däumig zum Antiparlamentarismus verleitet,
nicht so schnell sich zurückmausern konnten wie er. Bei ihnen bedarf es
«allerdings noch dringend der Aufklärungsarbeit.
Ueber die Frage der Internationale und den Be-
schluß des Parteitages dazu schreibt Ledebour:
,Zür die in den Kommissionsverhandlungen vereinbarte Resolution
habe ich dann mitsamt einer Vierfünftelmehrheit des Kongreffes gestimmt,
während Däumig dagegen stimmte. Es gehört wirklich ein ungewöhnlich
tung es so zu drehen suchte, wenn Däumig bei der Berichterstat-
tung zum Siege es so zu drehen suchte, als ob seine Auffassung zum Siege
gekommen wäre. Was ihm dazu den Vorwand lieferte, war die Annahme'
eines Zusahantrages, der völlig rechtsungültig ist, da er geschäftsordnungs-
widrig znr Abstimmung gebracht wurde. Ls ist außer den Schiebern, die
diese Uederrumpelung des Parteitags bewerkstelligt habe«, wahrscheinlich
nur wenigen Geooffen bei der Verlesung klar geworden, daß dieser Zu-
satzankag gegen die mühselig erzielte Abmachung und gegen den Haupt-
»nlrag verstößt. Für Däumig ist es kennzeichnend, daß er an diesem Ma-
növer nichts auszusetzen findet.
Schließlich schreibt Ledebour noch:
„Nicht gegen die Parteitagsbeschlüffe, sondern gegen diese Schieber-
praktiken habe ich mich in meinem Artikel sehr unzweideutig ausgespro-
chen. Dann aber habe ich es auch mi< vielen Parteigenossen verdorben,
als ich mit aller Entschiedenheit Front machte gegen den Terrorismus,
insbesondere gegen regierungsterroristische Akte, von welcher Seite sie auch
betrieben werden mögen. Als ich auf diese heikel« Sache zu sprechen
kam, wußte ich ganz genau, in was für ein Wespennest ich stechen würde,
da leider unter der Hand auch in unseren Reihen sür eine terroristische
Taktik Propaganda gemacht wurde."
Wir sind auf diesen Kampf Ledebour-Däumig ein-
Schendcr eingegangen, nicht aus Schadenfreude über die inneren Un-
einigkeiten der U.S.P., sondern um festzustellen, daß die ganze
schone Einigkeit der Leipziger Parteitagsbeschlüffe lediglich leerer
Schein ist. Und was soll man noch für eine politische Achtung ha-
be», vor einer Partei, welche in ihrer Stellungnahme zur Inter-
nationale sich ganz übler „Schiebcrpraktiten" bedient, die von den
eigenen Parkeigenoffen als völlig „rechtsungültig und geschäftsord-
nungswibrig" abgelehnt werden?

Wirtschaftliche Besprechungen in StuttZart
Stuttgart, 2. Ian. (W.B.) Wie das Süddeutsche Korre-
spondenzbüro hört, werden der Reichswirtschastsminister und die
Vertreter der größeren Gliedstaaten vom 6. Januar ab mit der
württembergischen Regierung in Stuttgart Besprechungen abhalten,
über die Lage und über die in nächster Zeit auf dem Gebiete des
Ernährungswesens und der E i n° und Ausfuhrzu er-
greifenden Maßnahmen. Im Anschluß daran werden die Vertreter
der Gliedstaaten in Stutgart auch die Aufhebung der selbständigen
Gesandtschaften innerhalb des Reiches erörtern. Am 10. Januar
ist der Besuch des Reichsverkehrsministers in Sachen des Rhein-
Neckar-Donau-Kanals hier erwartbar.
Abermalige Verzögerung der Ratifikation.
Paris, 2. Ian. Das „Petit Parisien" sagt, man erwartet die
Antwort der deutschen Regierung betreffend der schriftlichen
fixierten Zugeständnisse der Alliierten in der Scapo-Flow-Ange-
legenheit. Der Generalsekretär Dutasta und Freiherr von Lersner
haben den 6. Januar nur als den mögliche n Tag des Inkraft-
tretens des Friedensvertrages ins Auge fassen können, es sei aber
heute schon fast sicher, daß dieses Datum überschritten werden
dürste. Angesichts des strittigen Gerichtsverfahrens der Abstim-
mungsgebiete wolle General Lerond alle Fragen so regeln, baß
fernere Verwicklungen ausgeschlossen sind. Das sei nur anzuneh-
men, daß der Austausch der Ratifikationsurkunden nicht vor dem
10. jedoch vor dem 12. Januar erfolgen dürste.
Paris, 2. Ian. Man meldet, daß die deutsche Delegation mst-
keilt, daß hier Präsident Herr von Lersner an einer Erkältung lei-
det und deshalb während einiger Tage keine» Ausgang unterneh-
men könne.
Die englische Komisfiorr
Hamburg, 2. Januar. (W.B.) Die englische Kommission, die
uns zur Auslieferung bestimmten Hafenmaterials besichtigt, hat sich
heute vormittag mit dem Kraftwagen nach Kiel begeben, um über
die dortigen Schwimmdocks usw. Feststellungen zu machen.

Professor Förster über die Schuld des alten Systems.
Im „Vorwärts" (in den beiden Montagsnummern) be-
schäftigt sich Prof. Fr. W. Förster, der jüngst in der „Welt am
Montag" von Eer ! achals Kandidat für den Reichspräsidenten-
posten vvrgeschlagen wurde, mit den bisherigen Ergebnissen des
2. Untersuchungsausschusses. So wenig Klarheit auch im einzelnen
bisher erbracht worden ist, klar ist jedenfalls das eine, daß der
U-Bootkrieg gegen Amerika durch die ganz leichtfertige
Diktaturpolitik der Militärs vom Zaun gebrochen wurde. Förster
schreibt:
Es war der Aberglaube unserer Bildungsschichten an Blut und
Eisen, ihre unablässige Verhöhnung von Weltfrieden und Weltverständi-
gung. was unvermeidlich zu einer solchen allmächtigen Verkörperung
militärischer Diktatur sowie zu den entsprechenden grundfalschen Berech-
nungen und damit eben zum völligen Zusammenbruch führen mußte.
In den Dozentenzimmern der Universitäten und in den Lehrzimmern
der Gymnasien wurde der U-Bootkrieg entschieden, die Schwertromantik
und die Wellunkenntnis der deutschen akademischen Zivilisten bildete die
Grundlage für Ludendorfss Diktatur und für das Fehlen jeder mit den
psychologischen, technischen und wirtschaftlichen Realitäten der Umwelt
rechnenden nationalen Politik.
Im deutschen Volk wird doch trotz allen jener Flausen das Bewußt-
sein erwachen, daß feine großen Heerführer sich in ihrer Sechst-
verteidigung als überaus klein erwiesen haben. Statt offen zu-
zugeben: „Ja, wir haben uns grauenhaft geirrt und verrechnet" —
haben sie die öffentliche Meinung unablässig von jenem Kernpunkt der
ganzen Fragestellung abgolenkt, der doch eben darin besteht, daß die
obersten Hecrcsleitcr sich vom Jahre 1916 an zu Vollstreckern des schwer-
industriellen Wahnwitzes gemacht hatten und eben deshalb eine Eini-
gung der deutschen Politik mit Wilsons Prinzipien geradezu fürchteten.
Das einfache deutsche Volk war nicht so blöden Auges, wie die Mehrzahl
seiner Gebildeten, cs hat diesen Sachverhalt seit Anfang 1917 immer
deutlicher herausgesühlt; dazu war gar keine Propoganda nötig: mit
erstaunlicher Helligkeit und Treffsicherheit wurde es von Bauern und
Arbeitern in der dritten und vierten Wagenklasje ausgesprochen: „Der
deutsche Verteidigungskrieg gegen den „Vernichtungswillen" unserer
Feinde ist ein loller Schwindel, der preußische Militarismus merkt eben,
daß er endgültig tstgeschlagen werden soll, dieses aber möchte er um
jeden Preis verhindern und darum will er nur einen Frieden annehmen,
der ihm sür den zweiten Weltkrieg einen erheblichen Vorsprung sichert.
Und dafür muß das Volk verbluten." So sprach man überall im Volke;
die Oberste Heeresleitung aber kannte nicht nur England, Frankreich und
Amerika nicht, sie kannte auch das deutsche Volk nicht, sie ahnte nicht,
daß der einfache deutsch« Mensch eines Tages innerlich von feine» Führern
abfallen und eben aus Grund intimster Berührung mit dem preußischen
Militarismus den Reden der feindlichen Staatsmänner recht geben werde.
Ueber die Möglichkeit einer Verständigungspolitik und einer
friedlichen Völkerorganisation schreibt Prof. Förster:
Mit dem Eingreifen Wilsons in die Frage der Kriegsziele tauchte
eine zweite ganz neue Möglichkeit auf, dem Militarismus ein radikales
Ende zu bereiten: Begründung einer ganz neuen Weltordnung des Rech-
tes und der internationalen Solidarität, wodurch die nationale Selbst-
hilfe sowie die Politik der Allianzen ausgeschaltet und durch eine Siche-
rung weit höherer Ordnung ersetzt worden wäre. 8m Jahre 1917 er-
oberte dieses Programm nicht nur alle pazifistischen und sozialistischen
Kreise der uns feindlichen Völker, sondern auch weite Schichten der
realpolitisch denkenden Elemente, vor allem des anglo-amerikanischen Welt-
handels. „W ir wollen eine sicher fundierte Welt," sagte
der amerikanische Großhändler, und die „Westminster Gazette" sprach
die llebcrzeugung aller maßgebenden Kreise der englischen Handelswelt
aus, wenn sie im Sommer 1917 fast in jeder dritten Nummer angesichts
der ungeheuren Schrecken und lloberrajcyungen der militärischen Zer-
störungstechnik dem Gedanken Ausdruck verlieh, daß die bisheriaen Siche-
rung» des nationalen Faustrechts und der Machttechnik in Wirklichkeit
gar leine Sicherungen mehr seien — die einzige wirkliche Garantie gegen
eine Wiederholung einer solchen Katastrophe könne nur in einer inter-
national organisierten Rechtsordnung und in einem auf Rechtsprinzipien
gegründeten Frieden liegen.
Prof. Förster schreibt dann weiter über die Wirkung, welche
diese deutsche militaristische Selbstherrlichkeit auf die anderen Völ-
ker haben mußte:

„Das deutsche Volk war in bezug auf diese Horizonte der Weltver.
ständigung ganz und gar rückständig geblieben, es vermocht« nickt, sich
durch rechtzeitige ehrliche Verbündung mit den besten Elementen der an-
deren Völker zu retten. Zwischen Treitschkr nnd Wilson gab es keine
Brücke — daran sind wir zerbrochen. Ein äußeres «Symbol für diese
Rückständigkeit war es, daß General Freytag-Loringhofen
noch im dritten Kriegsiahr ein Buch über die „Lehren des Weltkrieges"
veröffentlichen konnte, in denen eine internationale Friedensordnung als
„unerträgliche Bevormundung" bezeichnet wurde. Die Gegner aber ge-
wannen aus diesem ganzen Versagen Deutschlands, aus dem Geiste der
Zensur, aus dem llcbcrmut der Militärs und aus den Resolutionen der
Universttätsprofessoren den Eindruck, die Welt sei nicht durch Verständi-
gung mit einem solchen Geisteszustände, sondern nur durch Zerschmetterung
der deutschen Kriegsmaschine von jener ganzen bedrohlichen Mentalität
zu befreien."
Aber auch heute noch fehlt es an der richtigen Selbsterkenntnis
und Selbstkritik in weiten Kreisen des deutschen Volkes:
Zwei Dinge sind es, denen jetzt das ganze Ausland mit ratlosem
Erstaunen gegenübersteht. Erstens, daß die Hauptschuldigen an einer der-
artigen Katastrophe, die von so vielen Sachkundigen warnend voraus-
gesagt wurde, es noch wagen dürfen, die V e r a n t w o r t! i ch k ei t auf
das von ihnen irregeleitete, getäuschte und an die Grenze des von
Menschen zu Ertragenden geschleppte Volk abzu wälzen, statt end-
lich chr System durch die Wirklichkeit der Dinge widerlegt zu fühlen und
ehrlich die Unmöglichkeit zuzugeben, der ganzen Welt gegenüber mit
einem erschöpften Volke einen „Siegfrieden" zu erringen. Zweitens, daß
weite Kreise des deutschen Volkes so verblendet sind, daß sie allen Ernstes
glauben können, daß eine eindringende, öffentliche Feststellung all jener
Verantwortlichkeiten dem deutschen Ansehen schaden könne, während doch
gerade umgekehrt die übrige Welt erst dann ein neues Vertrauen zum
neuen Deutschland fassen kann, wenn dasselbe seine schrecklich« und un-
begreifliche Solidarität mit den Trägern des alten Systems aufgibt,
druchgreifend Rechenschaft verlangt und den schlechten und falschen Geist,
der es in der Welt isoliert hat, endlich unzweideutig als solchem erkennt
und verwirft.
Die Untersuchung der Schuldfrage des Krieges und der Kriegsver-
längerung ist der deutsche Dreyfußprozeß. Wird das deutsche Volk, das
Volk der Wahrheitsucher, die gleiche moralische Energie in
der Auseinandersetzung mit dem selbstherrlichen Trecken des preußischen
Militarismus aufbringen, die das französische Volk seinerzeit gegenüber
dem militärischen Schwindel und der militärischen Arroganz bewies?

Ausland.
Die internationale sozialistische Studenkenkonferenz.
Zürich, 30. Dez. Die gestern geschlossene internationale
Konferenz der sozialistischen Studenten nahm u. a. eine von dem
französischen Delegierten Dolde nderg eingebrachte Resolution
an, worin die sozialistischen Studierenden empörten Protest er-
heben gegen die verbrecherische Politik der Ententeregierungen, die
ganze Völker zum Tode durch Hunger und Erfrieren verurteilen.
Der Kongreß protestiert ferner gegen die Gefangensehung der Mün-
chener Studenten Graßl, Scheller und Toller.
Neben der internattonalen Vereinigung der kommunistischen
und sozialistischen Studenten, die sich auf dem Genfer Kongreß ge-
bildet hat, ist dort auch eine freie internationale Gruppe von sozia-
listischen und kommunistischen Studenten -zum Studium und für die
Verbreitung des Sozialismus gegründet, die sich der dritten Inter-
nattonale nicht anschließt.
„Internationale Kommunistische Studentenföderation."
Zürich, 30. Dez. Der internationale Kongreß der sozia-
listischen und kommunistischen Studenten in Genf hat sich ge-
spalten. Die Vertreter der Schweiz, Frankreichs, Hollands,
Siidslawiens, Italiens und die deutschen Kommunisten beschlossen,
der dritten Internationale beizutreten und konstituierten sich als
„Internationale Kommunistische Studentenföderation".
Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen.
Amsterdam, 31. Dez. Das Preßbüro Radio meldet, daß nach
dem Austausch der Ratifikationen am 7. oder 8. Januar sich die
diplomatischen Vertreter Frankreichs auf ihre Posten in Deutschlanb
begeben werden. — Die Abfahrt ber mit der Besetzung der deut-
schen Abstimmungsgebiete beauftragten alliierten Truppen beginnt
am 12. Januar.
Vom Obersten Rai.
P a ri s, 31. Dez. Der Oberste Rat der Alliierten trat heute
morgen unter dem Vorsitz von Jules Lambon zusammen und hörte
Dutasta an, der über seine Unterredung mit Herrn von Lersner
Bericht erstattete, sowie General Lerond, der über die Verhandlun-
gen zwischen den alliierten Vertretern und der von Simon präsidier-
ten Delegation berichtete. Der Rat beschloß, daß alle Maßnah-
men bezüglich des Inkrasttretens des Friedensvertrages vor dem
6. Januar, dem Tage, der für den Austausch der Ratifikationen in
Aussicht genommen ist, getroffen werden müsse. Der Rat beschloß
ferner, baß der Schutz der Angehörigen der Gebiete, in denen Volks-
abstimmungen vorgenommen werden sollen, im Auslande derjeni-
gen Macht zufällt, deren Vertreter der Abstimmungskvmmlssion des
betreffenden Gebietes präsidiert. Der Rat entschied, daß der Unter-
halt der Besatzungstruppen in-den Abstimmungsgebieten jeder an
der Besetzung teilnehmenden Macht obliege. Die Rückerstattung
der Kosten soll durch die Macht erfolgen, der das Abstimmungs-
gebiet zugesprochen wird. Sofort nach Inkrafttreten des Friedens-
vertrages soll dix deutsche Regierung die 192 000 Tonnen Schwimm-
docks abliefern,'zu deren unverzüglicher Ablieferung sie sich ver-
pflichtet hat. Der Rest des abzuliesernden Materials ist inner-
halb einer Frist von 30 Monaten abzuliefern.
Französische Wirtjchastssorgen.
Paris, 31. Dez. Ackerbaummister No ulens erklärte
heute morgen vor der Kröditkommiffion der Kammer, daß der
Brvtpreis vom 1. Februar an in Paris von 55 auf 90 und in den
Departements von 60 auf 90 Zentimes erhöht werde. Die Han-
delsfreiheit für Inlandsgetreide werde wiederhergestelll, während
sich der Staat das Einkaufs-, Einfuhr- und Verteilungsmonopvl
Vorbehalte. Noulens fügte bei, daß die Getreide- und Mehlversor-
gung Frankreichs bis Ende Juni 1920 sichergestellt sei und baß
Verhandlungen mit den östlichen europäischen Ländern zwecks An-
kauf der zum Juli und August notwendigen Menge im Gange
seien. Es sollen Maßnahmen getroffen werden zugunsten großer
 
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