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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0073
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D«MAqveiß: Monatkkl) einschl. Trägerlohn 2.Z0 M. Anzeigenyreise:
Die «ichtzattiac petttzeike (Ri min breit) 40 pfg., Reklams^ünzeigen
»m» breit) 2.- M. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Taris.
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TeMftSsiundeu:Uhr. Sprechstunden der Redaktion: 71 -12 Uhr.
VoßffchrMonto«arlenche 7ir.22572. Tel-Adr.: B»lk«zettungHeidelberg.

Tauberbischossheim und Wertheim.

Heidelberg, Dienstag, 20. Januar K920
Ur. ^6 » 2. Jahrgang

Derantwortl.: Für innere u. äuHere Politik, Dolkswirffchaft ^Feuilleton: Dr.
S. KrauS; für Kommunales u. soziale Rundschau: Z. Kahn; für -Lokales:
O. Seibel» für die Anzeigen: tz. Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der tlnterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigenannahme 2973, Redaktion 27,4».

Preffestimmerr zur französischen
Präsidentenwahl.
Die „Boss. Zeitung." schreibt in einer Würdigung der
vokitsschen Bedeutung Clemenceaus:
I» Deutschland ist man gewohnt, Llemenceau als einen Inbegriff
chauvinistischer und gewalttätiger Politik nach allsten zu betrachten. Wer
aus dieser höchst mangelhaften Vorstellung nun den Schlich ziehen wollte,
doch sein Ausscheiden aus dem politischen Leben einen Kurswechsel der
französischen Außenpolitik bedeute, der dürste enttäuscht werden. Man
kann nicht gut von einem Kurswechsel sprechen, wenn man die bisherige
Richtung und ihre Motive nicht kennt und versteht. Llemenceau ist
zweifellos im politischen Sinn kein Freund der Deutschen. Aber daran
ist nicht nur die Erinnerung an 1871 schuld, sondern vor allem auch die
in späteren Jahrzehnten gemeinsam mit einer ganzen Generation fran-
zösischer Politiker gewonnene Ueberzeugung, dast die Eigentümlichkeit der
deutsche« Politik ein« Aussöhnung mit Frankreich immer wieder erschwert
and im entscheidenden Augenblick verhindert hat. Llemenceau hat als
Politiker die vergeblichen Versuche Delcasses erlebt, die französisch-russische
Verständigung mit Deutschland herbeizuführen. Er hat die beiden Mo-
rokkökrisen mttgemacht, deren Pole, wenn man so sagen darf, die beiden
Verstänbigungspolrtiker Rouvier und Taillaur aus französischer Seite
gewesen sind. Zwischendurch ist er selbst Ministerpräsident gewesen. Er
hat also jenen Wechsel der sranzösischen Außenpolitik miteriebt und mit-
gemacht, der nach dem Scheitern der kontinentalpolitischen Bestrebungen
Mit Notwendigkeit zur Annäherung an England führte. Als logische
Konsequenz dieser Entwicklung und der andauernd verständnislosen deut-
scheu Politik hat Llemenceau seine Kriegspolitik aufgesastt; und in diesem
Punkt unterscheidet er sich von dem größten Teil der Franzosen nur durch
bas ungewöhnliche Mast von Willenskraft und Temperament, womit er
diese Politik betrieben hat. Aber man darf auch nicht vergessen, dast
derselbe Llemenceau nach dem Kriege dem Minister Lvucheur freie Hand
gewährt hat, um aufs neue die Airdahnung einer wirtschaftlichen Ver-
ständigung mit Deutschland zu versuchen. Und er hat in seiner letzten
Kammerrede gezeigt, dast in erster Linie ein tief eingewurzeltes Mist-
trauen sein schwerstes Bedenken gegen eine solche Verständigung mit
Deutschland darstellt, deren theoretische Notwendigkeit auch er nicht
verkannt hat.
Die deutschen Politiker, die mit dem ständigen Hinweis auf den
„Tiger" Llemenceau jede deutsche Initiative einer Annäherungspvlitii an
Frankreich ablehnten, können sich jetzt also beruhigen, gleichgültig, wie
gut oder schlecht sie die Politik Clemenceaus verstanden haben. Llcmen-
r«au wird nicht mehr die französische Politik machen. Ob die Richtung
dieser Politik sich nunmehr ändern wird, das allerdings wird in erheb-
lichem Maste auch von Deutschland abhängen. Auch die jüngere Gene-
ration in Frankreich wird nicht daraus verzichten, dast Deutschland "eine
Hilfe für den Wiederaufbau des Nachbarn ausgiebig zur Verfügung stellt;
und gerade sie wird aus ihrer stark wirtschaftlichen Anschauung heraus
bas Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich danach einrichten,
ob auch Deutschland Verständnis für den Gedanken der festländischen
Solidarität zeigt oder nicht. Aber sie wird bereit sein, in ehrlicher Mit-
arbeit mit Deutschland den Weg zur Erfüllung derjenigen Lebensinter-
«sie« zu betreten, die beiden Ländern wirklich gemeinsam sind.
Die „Frankfurter Zeitung" gibt folgende Würdigung des neuen
Präsidenten Deschanel:
Man darf über dem Trauerspiel Llemenceau den geschichtlichen Sinn
nicht vergessen, der in den Vorgängen von Versailles siegt. Die Wahl
Deschancle ist der Beweis dafür, dast das innerpolitische Leben Frank-
reichs sich wieder regt. Die Lähmung der Kriegsjadre wird überwunden.
Seiner ganzen politischen Herkunft und Vergangenheit nach ist Deschanel
nicht der Mann, die Geleise zu verlaßen, in welchen Poincare sich be-
wegte. Beide entstammen dem alten republikanischen Opportunismus,
der die Vaterschaft seines Gründers, des großen Patrioten Gambetta,
nie verleugnete. Der neue Präsident wird im Kultus des Vaterlandes
die gleiche hobepriesterliche Rolle erfüllen wie der alte. Wir sind im
Frieden jetzt, im Frieden des Versailler Vertrags. Man wird in Paris
nicht mehr die voll« Willkür üben können, die der Krieg als eine Insti-
tution der Rechtlosigkeit in vielen Augen rechrfertigen mochte. Aber
bestenfalls wird die Methode sich ändern, die Gangart und das Tempo
der Politik, nicht ihre Richtung und ihr Ziel. Deschanel hat in seiner
langen politischen Laufbahn bis jetzt noch keinen Ton hören laßen, der zu
anderen Hoffnungen verführen könnte. Gerade ein Mann wie er, der
nach dem bitteren sranzösischen Wort ein Führer ist, weil er den Ge-
führten folgt, wird schwerlich versuchen, gegen den Strom zu schwimmen.
Das deutsche Volk bat vier Jahre gehraucht, auch den Zusammenbruch,
um sich von den Illusionen des Krieges zu befreien und die Wirklichkeit
zu sehen, wie sie war. Die Franzosen, im Kriege hellsichtiger, müßen
sich erst von den Illusionen des Friedensschlußes befreien, um sich in die
Wirklichkeit hineinzudenken. Es sind Anzeichen da, dast in Frankreich die
Gärung der geistigen Umstellung einsetzt. Je näher die Ausführung des
Friedensvertrags an die Schwierigkeiten im einzelnen heranrückl, desto
klarer müßen die Augen geöffnet werden. Aber es ist noch nicht so weit,
dast man damir rechnen darf. Wir können auch nicht erwarten, dast
die allgemeinen Bedürfnisse der französtichen Politik losgelöst bleiben von
der Strenge, mit der die Erfüllung des Friedensvertrags gefordert werden
wird. Das sind Dinge, die in Frankreich kein Staatsoberhaupt und kein
Minister am Fädchen lenken kann. Aber die Männer, welche hie Staats-
geschäfte in Händen haben, besitzen einen tiefgehenden Einfluß. Kein
Zweifel ist möglich, daß die harten, kantigen Persönlichkeiten Pomcares
und Llemenceaus in den Härten der Friedcnsbedingungen abgeprägt sind.
Roch ist in den westlichen Demokratien der richtige Ausgleich nicht gefun-
den zwischen den Rechten der Exekutive und der Volksvertretung, in dem
die persönliche.Einwirkung hinter die reine Sachlichkeit zurücktritt. In
Amerika wird jetzt dieser Ausgleich gesucht. Die Operation geschieht
leider auf unsere Kosten. Unter Paul Deschanel, geschmeidig, der re-
präsentativen Seite seines hohen Amtes zugeneigt, mag die französische
Politik weniger knorrig austreten. Ader sie wird keine Ideenpolitik wer-
den. Sie wird Realpolitik bleiben, itz dem Sinne, daß sie die Grundlagen
der äußeren Machtstellung Frankreichs beibebält und sie mit allen tra-
ditionellen militärisch-diplomatischen Stützen zu stärken sucht. Deschanel
stellte sich in allen seinen Reden zur auswärtigen Politik in die Perspek-
tiv« der großen Vergangenheit, um in einc große Zukunft seines Vater-
landes blicken zu können. Die Ausdauer und Gradlinigkcit, mit der er
zwanzig Jahre lang dem Elysec zusleuerle, ist ein Beweis dafür, daß er
folgerichtig denken und handeln kann. Er ist ein Mann von dremndsechzig
Jahren, drei Jahre älter als sein jetzt scheiderrder Vorgänger. Seme
Atemkraft wird ausreichen, um seinen Ministerien von seinem Geiste e»n-
öauchen zu können.

Politische Ueberficht
Reichsparieitag des Zentrums.
Berlin, 19. Ian. In dem großen Sitzungsfaale des Reichs-
tages heute derReichsparteitagdesZentrums.
Unter 'den anwesenden Delegierten sieht man nur sehr wenige
Frauen. Herr E r z b e r g e r, um den sich voraussichtlich ein gro-

Der Gefarrgenenrüätransport.
Berlin, 20. Januar (WTB.) Der Abtransport der
Kriegsgefangenen aus Frankreich beginnt am 20. Januar.
Zunächst werden die im linksrheinischen Gebiet beheimateten
Gefangenen zurückbefördert. Die ersten Gefangenen treffen
am 21. Januar ein. 500 Heimkehrer aus Ober-Indien
mußten wegen einer Influenza-Epidemie in Port Said aus-
geschifft werden.
DSumig verhaftet.
Berlin, 20. Jan. (W.T.B.) Der Führer des radikalen
Flügels der Unabhängigen Däumig wurde heute Vor-
mittag verhaftet.
Radek in Rußland.
Berlin, 19. Jan. (W.B.) Radek traf am 18. Januar
begleitet von deutschen Beamten an der polnischen Grenze
ein und reiste nach Sowjetrußland weiter. Mit der Rück-
gabe der für ihn von Sowjetrußland festgehaltenen Geiseln
Franz Eleinow, Adolf Beethmann, Karl Muskat,
Leo Schanz, Ottomar Heinze und Bruno Bertram
kann demnächst gerechnet werden.
Das neue französische Ministerium.
Paris, 20. Jan. (W.T.B.) Das neue Ministerium setzt
sich folgendermaßen zusammen: Ministerpräsident und Minister
des Äußeren Millerand, Iustizminister L'Hopiteau,
Minister des Innern Nonnerat, Kriegsminister Lefevre,
Marineminister Landri, Handelsminifter Isaac, Landwirt-
schaftsminister Piquard, Finanzminifter Marcalm, Kolo-
malminister Sarraut, Minister für öffentliche Arbeiten
Petrequez, Unterrichtsminisrer Bernarö, Arbeitsminister
Jourdarin, soziale Fürsorge und Hygiene Breton,
Vorsitzender über die Unterftaatssekretäre Äeibel.
U ' Die Adriafrage.
Anapolis, 20. Jan. (W.T.B.) Italien hat den Ab-
machungen über die Adriafrage zugestimmt. Die Italiener
sind z. Zt. mit der Räumung der dalmatischen Küste be-
schäftigt. Sie sollen durch alliierte Truppen ersetzt werden.

her Teil der Erörterungen drehen wird, ist nicht zu Stelle. Schon
in die Bureauwahl spielen die politischen Differenzen hinein. Außer
Fehrenbach und Porsch hat man den Prinzen Löwenstein
gewählt, der aber erklärt, er könne als Bayer die Wahl nicht an-
nehmen, da alle Bayern ohne Ausnahme den Parteitag als nicht-
offizielle Vertreter besuchten. Noch um erhebliche Schattierungen
politischer wird dann Herr Fehrenbach, der dem verstorbenen
Führer Gröber den Nachruf zu spenden hat. Unter dem Beifall
der Versammlung erklärt er, daß die Niedersachsen, Westfalen und.
Rheinländer einen besonderen kulturellen Zusammenhang finden
müßen. Er sprach dann auch die Erwartung aus, daß dieBayern
wieder zur Partei zurückkehren würden. Dann hält der Ab-
geordnete Trimborn sein großes Referat über die politische
Lage, und auch er kommt natürlich auf das Problem des Tages, auf
Erzberger und die Bayern zu reden. Herr Trimborn meinte: Herr
Erzberger hätte in Stuttgart vielleicht den Einheitsstaat zu stark
pointiert, denn er hätte dabei ganz selbstverständlich eine weitgehende
Dezentralisation in der Verwaltung und auf kulturellem Gebiete
vorausgesetzt, und es bleibe schwer zu begreifen, wie die Bayern
wegen der Verstimmung eines einzelnen Mannes in' München den
Trennungsbeschluß hätten fassen können, ohne die Aussprache auf
dem Parteitage abzuwarten. In der Nachmittagssitzung, der Erz-
berger beiwohnte, wurde lebhaft über Trimborns Rede diskutiert.
Der bad. Finanzminister Dr. Wirth sagte u. a., daß
das Zentrum sich in taktischen Fragen weder nacy rechts, noch nach
links festlegen, sondern nur der Stimme der Vernunft folgen dürfe.
Wenn wir die theoretische Diskussion aufnehmen wollten: Krone
oder Republik?, so wäre das das Ende des Zentrums und
des deutschen Katholizismus. Richt unsere Untreue hat die Repu-
blik gebracht, sondern die Politik der Träger der Krone.
Aufhebung der Ententeblockade gegen Rußland.
Basel, 19. Ian. (Privatmeldung.) Die Agentur Havas
meldet aus Paris: Die Entente hat gestern auf englische Ini-
tiative beschlossen, dieBlvckadegegenRußland aufzuheben
und die Handelsbeziehungen mit Rußland wieder aufzu-
nehmen. Es ist beschlossen, den Austausch von Maren auf Grund-
lage der Gegenseitigkeit zwischen dem russischen Volke und den
alliierten und neutralen Ländern zu gestatten. Diese Maßnahme
bringt aber feine Veränderung der Richtlinien der Politik der
Alliierten gegenüber Sowjetrußland mit sich. (?)
Der Pariser Vertreter der Basler Nationalzeitung bezeichnet
die Aufhebung der Blockade gegen Rußland als die wichtigste
Ueberraschung in den politischen Weltereignissen. Praktisch
sei sie nichts anderes als eine Friedenserklärung der Alliierten gegen-
über Lenin und Trotzki, und dieser Friede sei die Frucht der erfolg-
reichen Feldzüge der roten Truppen gegen die drei Armeen Kolt-
schak, Denikin und Iugenitsch. Naturgemäß sei für diesen Einschluß
der Entente das gebieterische Bedürfnis für Rohstoffe maß-
gebend gewesen, denn Frankreich benötige dringend aus Rußland
Zucker, Italien Weizen und England Flachs.
Beitritt Argentiniens zum Völkerbund.
Buenos Aires, 17. Ian. Havas. Der Präsident von
Argentinien hat Herrn Clemenceau telegraphisch von dem formellen
Beitritt der argentinischen Regierung zum Völkerbund in
Kenntnis gesetzt.

Die Sonntagsfitzrmg der
NatiorralversaMmLung.
Dritte Lesung des Betriebsrätcgejetzes.
Genosse Ostcrroth gegen die U.S.P.
Die Besprechung des Gesetzes findet nach den sechs Hauptabschnitten
getrennt statt. Die Schlußabstimnrung ist auf Antrag der Demokraten
namentlich. Zu den allgemeinen Besprechungen der 88 1—14 erklärt
Abg. Schiele (D.-R.): Wir werden gegen das Gesetz stimmen,
weil es die Grundlagen für einen gesunden Wiederaufbau von Landwirt-
schaft, Handel, Industrie und Handwerk zerstört.
Abg. M o st (Dr. Vp.): Der Gedanke der Vertretung von Arbeit-
nehmern und Angestellten innerhalb des Betriebes ist uns an sich sym-
pathisch. Aber dieses Gesetz wird einc Ouclle ewigen Streites zwischen
Arbeitgebern und Arbeitnehmern werden. Auch wir lehnen das Ge-
setz ab.
Abg. Ehrhardt (Z.): Die Agitation der äußersten Rechten
unterscheidet sich nicht sehr von der der Unabhängigen. (Lärmende
Zwischenrufe rechts.) Wir werden den Arbeitnehmern gegenüber die
Leute, die gegen das Gesetz stimmen, als das hinstellen, was sie aus bei-
den Seiten sind. Vertreter von Klass eninterefsen. (Er-
neute große Unruhe rechts.) Das Gesetz schafft soziales Recht an Stelle
der bisherigen Machtverhältnisse und wird zum Wiederaufbau der Wirt-
schaft, die mit Gewalt nicht zu erreichen ist auf f r i e dl i ch e m Wege
beitragen. (Beifall bei der Mehrheit.)
Äbg. Henke (U.): Die Räte-Idce wird von den großen Massen
getragen: sie wird nicht wieder fallen lassen. Wir stimmen auch gegen
das Gesetz, selbstverständlich aus anderen Gründen als die Rechte, die
nur den Kapitalismus bedroht siebt. Die Arbeiter sorgen dafür, daß die
kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt und an ihrer Stelle die plan-
mäßige Gesellschaftsordnung aufgebaut wird.
Abg. Ostcrroth (Soz.):
Wenn die Unabhängigen sicher sind, die kapitalistische Wirt-
schaftsordnung von heute auf morgen stürzen zu können, warum ha-
ben sie dann den Arbeitern nicht gesagt, daß sie keine Be-
triebsräte mehrbrauchen? So unehrlich wie die unab-
hängige Agitation über den Zweck des Gesetzes ist, so unehrlich
war alles, was man von den Unabhängigen in den letzten acht Tagen
gehört hat. (Lebhafter Beisall bei der Mehrheit.) Die Kommis-
sionsberatüngen über das Betriebsrätegesetz konnte nur deshalb elf
Wochen lang dauern, weil die Mehrheitssvzialdcmokrasie mitalien
Mitteln für die Rechte der Arbeiter eingetreten ist. Die lange
Dauer der Kommissionsberatungen, die zum Teil sehr stürmisch ver-
liefen, sind ein deutlicher Beweis dafür, daß die Mehrheitssozia-
listen im Kampfe f ü r die Arheiterintereffen ihre Pflicht erfüllten.
Nach meiner Buchführung hatte bei den 72 Abstimmungen in der
Kommission von den beiden unabhängigen Mitgliedern immer ei»
Mitglied gefehlt. (Zuruf des Unabhängigen Geyer: Ihre Buchfüh-
rung stimmt nicht.) Diese Buchführung ist genauer als Ihre Buch-
führung über Ihre Leipziger Kommunalkassenführung. (Stürmischer
Beifall und Händeklatschen bei der Mehrheit.) Wir brauchen die
Diktatur der Demokratie, wir brauchen die Diktatur der
Vernunft und der wirtschaftlichen Stärkung, die Diktatur derer, die
das deutsche Volk retten wollen, nicht aber die Diktatur der Hohl-
köpfe, der Schwätzer und Demagogen. (Beifall bei der Mehrheit,
Unruhe bei den Unabhängigen.) Das Betriebsrätegesetz wird nicht
von heute auf morgen die Welt umgestalten und Wunder wirken
können. Darüber sind wir uns vollkommen klar. Das Gesetz wirb
die Arbeiterschaft vor praktische Fragen stellen und für diese eine
Schule der sozialistischen und volkswirtschaftlichen Erziehung
sein. Ls ist die erste Voraussetzung für die Verwirklichung des
Sozialismus, daß die Menschen mit der Handhabung der Produk-
tionsmittel vertraut werden. Wir stehen in der Koalitionsregierung,
weil wir uns unserer historischen Verantwortung bewußt sind und
weil die Unabhängigen zu mutlos waren, allein oder mit uns die
Verantwortung zu übernehmen. Die Unabhängigen haben am 10.
November 1918 die Uebernahme der Regierung abgelehnt, obwohl
sie damals der loyalsten Unterstützung de,r Mehiheitssozialdemokra-
tie sicher waren. Als die Regierung Ebert-Scheidemann-Nvske den
Unabhängigen erklärte, wenn sie sich gegen die Einberufung der
Nationalversammlung auflehnen, wollten sie zurücktreten, üm ihnen
die Regierung zu überlassen, haben die Unabhängigen ihren
Einspruch zurückgezogen. (Hört! hört! und lebhafter Beifall.)
Damals konnten die Unabhängigen schmerzlos die politische
Macht erlangen. Es hätte keiner Maschinengewehre und nicht
blutiger Kämpfe bedurft. Wir konnren nicht anders als das Kreuz
der Verantwortung tragen. In Weimar haben die Unabhängigen
mit Hohngelächter das Angebot, in die Regierung einzutreten, zu-
rückgewiesen. Sie haben auf die Koalition geschimpft und getobt
und sich mit den Parteien der Rechten verbunden, um die Koalition
zu erschüttern. Was würde geschehen, wenn wir austreten wür-
den? Der blusige Bürgerkrieg würde die Folge sein,
die Diktatur der Räte würde über Millionen Hungerleichen führen.
(Lebhafter Beifall bei der Mehrheit.) Wenn der Putsch vom 13.
Januar gelungen wäre und die Demonstranten in den Reichstag
eingedrungen wären, wäre es wahrhaftig zu einer Bartholomäus-
nacht gekommen. Denn glauben Sie, die Eindringlinge hätten
Noske geküßt? (Beifall bei der Mehrheit.) Das Blut vom 13.
Januar kommt auf Sie (zu den Unabhängigen. Starker Beifall
bei der Mehrheit.) Wo waren denn in diesem kritischen Augenblick
Ihre Führer? Sie haben sich alle verkrochen. (Lebhafte Zustim-
mung.) Eine rein bürgerliche Regierung wäre nur der Anfang
zum Bürgerkriege. Weil wir das nicht wollen, bleiben auch wir
weiter in der Koalitionsregierung. Wenn drei Parteien aus wider-
spruchsvollen Weltanschauungen Zusammenarbeiten müssen, muß
natürlich jede Konzessionen machen. Es gibt aber für uns keinen
anderen Weg. Wir wollen keine Rätedittatur, keine Iunkerdiktatur.
Wir haben nicht aufgehört, Sozialisten zu sein wie diejenigen, die
unter Führung der Geyer und Zieh in Leipzig für den Anschluß a»
Moskau eingetreten sind. Für Sie (links) gibt cs kein freies Wahl-
recht. Als Betriebsrat ist Ihnen jeder willkommen, der sich am wil-
desten gebärdet und das größte Mundwerk hat. Das machen mit
nicht mit. Wir sind Soldaten der sozialen Demokratie und das
bleiben wir. Und wir sind überzeugt, daß die Vernunft bei den Ar-
besten, wieder siegen wird. Sie (zu den Unabhängigen), die ja fast
ganz Kommunisten sind, suchen die Massen zur Verzweiflung
zu treiben in der Hoffnung, daß Sie zur Räterepublik kommen wür-
 
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