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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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LageSMnmg für die NerktSttge BevöNerm'g der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppiagea, Sberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Norberg,
Tauberbifchofsheim und Wercheim.



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22,71. Tel-Adr.- Boiko^iinagHeidelberg.

Heidelberg, Dienstag, 27. Januar ^920
Ar. 22 » 2. Iahrgang

Derantvortl.: Mr Innere u. äußere Politik, Dolkswirtschast ».Feuilleton:Dr.
«.Kraus, für Kommunales u. soziale RundschauKahn, für Lokales l
O. Geibel, für dir Anzeigen: H. Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der ilnterbabischen 2'erlaqsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
(Geschäftsstelle: Echröderfiraßr R».
Fernsprecher: Anzeigen-Annahm« 2673, Redaktion 2648.

Ein Attentat auf Erzberger.

Von R. G. Hacbler.
l.
Bon unabhängiger und kommunistischer Seite macht man den
Mehrhettssozialisten den Vorwurf, sie hätten sich gewandelt. Sie
feien nicht mehr die, weiche sie einst waren. Aus revolutionären
Sozialisten seien sie eine Partei von Kleinbürgern und gelernten
Handarbeitern geworden. Unter diesem Gesichtspunkt hätten sie
die Probleme des Krieges und der Revolution gesehen,' nicht svzia-
lksttfch, sondern letzten Endes bourgeois — unter dem Gesichtspunkt
einer besitzenden Masse. Nur der revolutionäre Sozialismus habe
ein Recht darauf, sich sozialistisch zu nennen.
Datz eine Wandlung der Sozialdemokratie vorliegt, das wird
mnd mich feder zugeden. Aber dies« Wandluna ist nicht grundsätz-
lich, sondern taktisch. Sie ist das Ergebnis der politischen Entwick-
lung aus dem Obrigkestsstaat zum Volksstaat. Es war niemals der
Sinn des zweiten Teils des Erfurter Programms, daß nach dessen
Erfüllung die Sozialdemokratie auch weiterhin Oppositions-
partei bleiben solle. Diesen zweiten Teil unseres Programms
Haden wir, soweit die Regierungs f o r m e n als etwas wesentliches
und grundlegendes in Betracht kommen, verwirklicht. Damit haben
wir wichtige Forderungen rein innerpolitifcher Formen erfüllt. Die
Staatsidee des Erfurter Programms, soweit sie lediglich Staats-
form ist, ist heute Tatsache. Soweit freilich diese Staatsidee zu-
gleich Ausdruck der wirtschaftlichen Gestaltung der staatlichen Ge-
samtheit, der Produktionsprozesse und wirtschaftlichen Aufgaben
dieses Sraatsganzen ist, stehen wir noch vor Aufgaben — die zum
Teil schwerwiegende Probleme nicht nur sachlicher, sondern auch
rmhespoiitischer Natur sind. Damir ist die Stellung der Partei
gegeben. Sie kann nicht mehr Oppositionspartei sein, soweit der
Staat als politische Funktion der Gesamtheit in Betracht kommt;
sie wird Oppositionspartei sein müssen dort, wo es sich um die
Durchführung ihrer wirtschaftlichen Forderungen, z. B. beim
Betriedsrätegesetz, handelt, die gegen eine, in Wirklichkeit ja noch
vorhandene starke Gegnerschaft durchzuführen sind. Damit ist für
die Partei eine psychologisch nicht leichte Stellung gegeben. Sie
stt nicht durchaus Regierung, kann aber auch nicht durchweg Oppv-
sfstio« sein. Dies übersieht die Linke. Sie ist noch ganz in der
reinen Oppositions-Mentalität des alten Staates befangen. Aber
seltsamerweise nimmt sie das nun als Basis eines Kampfes auch
gegen eine Regierung, die doch mit ihr rein politisch weite Strecken
Gemeinsamkeit besitzt. Hier klafft ein Widerspruch, den bis jetzt
nur die Kommunisten radikal überwunden haben, indem sie über-
die Staatsfvrm der Demokratie und des Parlamentarismus
n das Erfurter Programm als Mittel zur Verwirklichung des
Sozialismus fordert — ablehnen.
Aus dieser Betonung des Parlamentarismus als Mittel zur
Sozialisierung geht ein zweites, psychologisch ebenfalls sehr wich-
tiges hervor. Es bedeutet die grundsätzliche Anerkennung einer all-
mählichen Entwicklung zum Sozialismus. Indem die deutschen So-
Sattsten dies Programm anerkannten, waren sie längst vor der
Revolution davon überzeugt, datz eine Sozialisierung „auf einen
Schlag" nicht möglich sei. Es ist nun ein Spiel mit agitatorischen
Phrasen, wenn man den Mehrheitssozialisten den Vorwurf macht,
sie seien nicht Sozialisten, weil sie nicht radikal sozialisieren — mit
anderen Aborten: weil sie auf das Erfurter Programm sich stützend
nur soweit sozialisieren, als dies durch das politische Mittel des
Parlaments möglich ist. Es ergibt sich also hieraus scharf und
deutlich die auf den ersten Blick verblüffende Tatsache: datz man die
Mehrheitsssziattste» unsozialistisch schilt, weil sie am Programm der
Sozialdemokratie sesthalten — während diejenigen, welche den
Boden dieses Programms verliehen, sich als allein echte Sozialisten
ausgeben. Der Weg und die Tatlik der Mehrheitssozialdemokratie
ist demnach klar, richtig und konsequent. Aber auch noch aus einem
anderen Grund, der weit wichtiger und wesentlicher ist als das Fest-
halten an einem Programm, dem schließlich eine unbedingte Gül-
tigkeit für alle Feiten nicht zukommen kann. Und dieser Grund ist
außenpolitischer Natur.
Es gibt keine Innenpolitik, die nicht bestimmt wäre durch außen-
politische Voraussetzungen. Genau wie die ökonomischen Verhält-
nisse der Weltwirtschaft ihre Wirkungen auf die Nationalwirtschaft
der einzelnen Staaten haben, ebenso hat die auswärtige Politik
einen bestimmenden Einfluß auf die Einstellung einer Regierung
zu den Fragen der Innenpolitik, sowohl was die Stellung der Par-
teien zur Regierung und umgekehrt, als auch, was die Stellung der
Regierung zu den Wirtschaftlichen Problemen des Staates anbelangt.
Es gibt nun keine wirtschaftlichen Belange, die unpolitischer Natur
sind, die jenseits des durch die Parteien'gegcbenen Kräfteparallelo-
gramms sich befinden: sie sind deshalb in einem parlamentarisch
regierten Lande abhängig von den politischen Konstellationen. So
ist auch die Frage der S o zialisierung eine nicht nur wirt-
schaftlich innenpolitische, sondern ebenso außenpolitische.
Nachdem der Waffenstillstand abgeschlossen und aus seinen
Bedingungen zu ersehen war, wie etwa der kommende Friede wirt-
schaftlich sich gestalten werde, mußte man sich sagen, daß die Hand
des Siegers, selbst im Falle eines Verständigungsfriedens, schwer
auf den unterlegenen Staaten lasten würde, da in der Frage der
Wiedergutmachung von vornherein Deutschland gewillt war, einen
wesentlichen Teil dieser Lasten zu tragen. Nun war diedeutsche
Volkswirtschaft durch den allzulangen Krieg bis aufs
höchste angespannt, nahe an ihrer Erschöpfung angelangt;^ die Roh-
stoffe fehlten längst und mußten durch Ersatzmittel notdürftig ver-
irrten werben, die Kohlengruben waren in unrationeller Weise er-
weitert worden, der Schiffsraum zum Teil beschlagnahmt, zum Teil
stastd seine Beschlagnahme zu erwarten. Eine einigermaßen loyale
Durchführung der wirtschaftlichen Garantien zur Wiedergutmachung
konnte sich dann wohl nur auf die Betriebe stützen, die in Staats-
HÄden waren; datz der Gegner auf Privatbetriebe direkt greifen
werbe, war nicht zu erwarten. Je mehr an wichtigen Werken also

Berlin, 26. Ian. Als Minister Erzberger heute nachmittag
Uhr das Gerichtsgebäudc Moabit verließ und seinen Kraft-
wagen besteigen wollte, feuerte ein junger Mann zwei Revolver-
schüsse auf ihn ab. Eine Kugel drang durch die Schulter und ver-
letzte ihn leicht. Die zwecke Kugel ging in die Bauchgegend, prallte
aber an einem metallenen Gegenstand, den der Minister in der
Tasche hatte, ab. Der Täler wurde verhaftet.
Zum Attentat auf Erzberger.
Folgen der reaktionären Hetze.
Die Verletzung Erzbergers.
Berlin, 26. Ian. (W.B.) Wie wir hören, hat die erste
ärztliche Untersuchung Erzbergers ergeben, -aß die Kugel, di«
den Arm durchbohrte, weiter in die Brust eingedrungen ist. Nä-
heres mu tzide Röntgenuntersuchung ergeben.
Der Attentäter.
Berlin, 26. Ian. (W.B.) Zu dem Attentat auf Erz-
berger erfahren wir noch: Der Minister verließ in Begleitung
des Rechtsanwalts Dr. Friedländer das Kriminalgericht in Moabit
und begab sich mit diesem zu seinem Kraftwagen. Bevor Erzbertzer
einstieg, unterhielt er sich noch mit dem Rechtsanwalt, alsplötzlich
ein junger, gut gekleideter Mann an die Beiden herantrat und
einen Schuß abfeuerte. Friedländer drehte sich um und
sprang auf den Attentäter zu. In demselben Augenblick feuerte die-
ser einen zweiten Schuß auf Erzberger ab. Erzberger fiel
darauf, wie einige Augenzeugen gesehen haben, in seinen Kraft-
wagen hinein und der Chauffeur fuhr davon. Der Attentäter wurde
von einem Sicherheitsbeamten festgenvmmen und auf der Wache
als der am 24. Nov. 1899 zu Berlin geborene frühere Fähnrich
und jetzige Schüler Oltwig von Hirschfeld, der in Steglitz
im Hause Freegestrahe 48 bei seinen Eltern wohnte, festgestellt. Der
Vater ist Bankbeamter.
Sein Beweggrund.
B er li n, 26. Ian. (Priv.-Tel.) Der 20jährige Schüler, der
das Attentat gegen Erzberger verübt hat, hat bis Ausbruch des
Krieges das Gymnasium besucht und wurde dann im Kriege
F ähnlich. Jetzt besuchte er wiederum die Schule, um sein Abi-
turium zu machen. Er bezeichnete sein Attentat als eine patri o-
tische Tat; wie er behauptet, wollte er durch seine Tat erreichen,
daß Erzberger endgültig aus der Regierung ausscheidet. Bevor er
abgeführt wurde, schrieb von Hirschfeld noch einen Brief an seine
Eltern, in dem er nochmals des Näheren schilderte, daß er aus pa-
triotischen Gründen gehandelt habe.
Keine Herabsetzung der Brotration.
Berlin, 26. Ian. (W.B.) Wie zuständigerseits mitgeteilt
wird, wird die Ausmahlungsquote für Brotgetreide vom 1. 2. von
84 Prvz. auf 90 Proz. heraufgesetzt. (Die frühere Ausmahlungs-
quote betrug 96 Prvz.) Gleichzeitig ist, um die Anlieferung von
Brotgetreide zu verbessern, eine große Druschaktivn in Angriff ge-
nommen, für die bereit liegende Kohlen zur Verfügung gestellt sind.
Die Kohlen sind bereits im Rollen nach den Derwendungsgebieten.
Ein kleines Ansteigen der Anlieferung ist bereits zu verzeichnen.
Eine Herabsetzung der Brotration findet nicht statt und ist auch vor-
läufig nicht beabsichtigt.
Beendigung des skandinavischen Arbeiter-
kongreffes.
Kopenhagen, 24. Ian. Der neunte skandinavische Arbei-
terkongretz fand mit der Annahme folgender Entschließung sein Ende:
Die industrielle Demokratie mutz ein Glied in dem Sozialisie-
rungsprozetz werden. Der Kongreß warnt jedoch vor der Vorstel-
lung, daß die ökonomische Umbildung der Gesellschaft von einem Tag
zum andern geschehen könne. Der Kongreß hält daran fest, daß die
Demokratie die Grundlage und der Sozialismus das Ziel für die
Befreiungsbestrebungen der Arbeiterklasse sein müsse.
Moskau gegen die ententistische Handels-
politik.
„Petit Parisien" meldet, daß nach drahtlosen Informattonen
der Regierung von Moskau, die in Washington eingetroffen seien,
die Sowjets erklärt hätten, jede Intervention der alten russischen
Genossenschaften im Handelsaustausch mit den alliierten Mächten
zurückweisen. Neu von den Volkskommissaren geschaffene Organi-
sationen seien es, an die sich di« Mächte wenden müßten. Es würde
deshalb schwierig sein, Verhandlungen mit der Regierung von
Trotzki und Lenin anzuknüpfen, eine Eventualität, die auch der
Oberste Rat formell beiseite geschoben habe.

sozialisiert, und das heißt heute in Staatshände übergeführt worden
wären, um so mehr hätten die Feinde Gelegenheit gehabt, ihren wirt-
schaftlichen Willen in Deutschland durchzusetzen. Sie hätten das
Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft ohne besondere Schwierig-
keiten nach Belieben lahmlegen können. Diese lleberlegung muhte
zur Vorsicht mahnen. Dazu kam als zweites der technische Einwand,
daß man Betriebe, die darniederliegen, nicht gern sozialisiert, und
am Boden lag unsere ganze Volkswirtschaft, nachdem die Kriegs-
industrie, von der das deutsche Volk in den letzten zwei Kriegsjahren
im wesentlichen lebte, vollkommen unnötig geworden war. Es wäre
ein katastrophales Unternehmen des Staates gewesen, nun plötzlich,
ohne eigentlich praktisch vorbereitet zu sein, die Umführung der
Kriegsindustrie in Friedensindustrie als Staatsbetrieb in die Wege
zu lecken. Alles dies mußte zur Vorsicht in der Frag« der Sozial-
sierung zwingen.

Politische Uebersicht
Die preußische Versasfungsvortage.
Kein Staatspräsident.
Die Verabschiedung der neuen preußischen Verfas-
s'ungsvorlagc im Staatsministerium steht, wie wir von gut
unterrichteter Seite hören, unmittelbar bevor. Die not-
wendigen Vorarbeiten sind soweit gediehen, datz man hofft, die
Vorlage noch Ende der nächsten Woche vor die Landesversammlung
zu bringen. Heute nachmittag fand eine Sitzung des Staats-
ministeriums statt, die sich mit der Vorlage beschäftigen sollte,
gleichzeitig sollen die interfraktionellen Besprechungen über diesen
Gegenstand zum Abschluß gelangen. Die neue Vorlage enthält
59 Artikel, die in zehn Einzelabschnitten eingekeilt sind. Die Ab-
schnitte behandeln: die Rechte des Bürgers, die Stellung des Par-
laments, das Wahlrecht, die Selbstverwaltung der Provinzen und
Kommunen, das preußische Bankrecht, die Stellung der Staats-
beamten, die Schulfragen, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche
und die Finanzierung des preußischen Staates.
Die Frage, ob für Preußen ein Staatspräsident vor-
gesehen ist, glauben wir nach unseren Informationen verneinen
zu dürfen, möglicherweise wird der Präsident der verfassunggebenden
Körperschaft gleichzeitig den Posten eines Staatspräsidenten ver-
sehen.
Der „Vorwärts" über Hollands Ablehnung.
Für Ablehnung der Auslieferung des Kagers aus Holland
schreibt -er „Vorwärts":
Das kleine Holland beugt sich nicht dem Befehl der
Sieger, crs Hal im Kriege mühsam seine Neutralität aufrecht-
erhalten, und es stellt sich jetzt schützend vor seine Landesgesetze und
vor die „ehrwürdige jahrhundertelange Tradition, die Holland stets
zum Zufluchtsort derjenigen gemacht hat, die in internationalen
Konflikten unterlegen ,>nd". Für die Aburteilung der Verbrechen,
die di« Entente dem früheren Kaiser Wilhelm II. zmcywbt, gibt es
kein« rechtliche Grundlage. Die Weigerung Hollands ist mutig, fest
und bestimmt. Die Herrscher der Entente, insbesondere die eng-
-e Regierung, der die Aburteilung Wilhelms ll. zugeschvben ist,
müssen / nun mit ihr auseinandersetzen. Sie Haben Mittel genug
in der »and, um das kleine, aufrechte, demokratische Land zu beugen.
Es ist nur die Frage, ob sie es wagen werden, ne anzuwenden. Tun
sie es, so laufen sie Gefahr, den schillernden Mantel zu
verlieren, in den sie sich gehüllt haben und an desien
viele Neutrale glauben.
Ler schwedische Professor Lun-stett, der wahrlich kein
Freund des alten Deutschland und seiner gestürmten Machthaber
gewesen ist, befaßt sich im Stockholmer „Sozialdemokrat" mit der
Auslieferungsfrage, und fragt, ob die Forderung der Ententemächte
mit den Rechtsgrundsätzen übereinsttmmen, die als von durchgrei-
fender Bedeutung für die modernen Kulturstaaten angesehen werden
müssen. Er antwortet mit einem kategorischen Nein.
Da der international anerkannte Rechtsgrundsatz, keine Be-
strafung ohne Strafgesetz auch im Auslieserungsfalle ange-
wendet werden muß, und das internationale Recht keine Paragra-
phen besitzt, auf denen die Entente sich bei der Auslieferung stützen
kann, so ist auch nach Ansicht Lundstetts die Forderung an Holland
ungerecht. Der Schwede fragt weiter, wenn das noch hinzukommt,
daß der Richter Partei ist, wie im vorliegenden Fall, so ist das
nicht allein ungesetzlich, sondern auch völlig unwirksam als
moralische Kraft, die dem deutschen Volke zeigen soll, daß die Aus-
zuliefernden Verbrechen begangen haben. Falls überhaupt die
Voraussetzungen für eine strafrechtliche Action gegenüber Wil-
helm II. und seine früheren ministeriellen Beamten gegeben werden,
kann das Prozeßverfahren unter rechtlichen Gesichtspunkten in keiner
Weise verteidigt werden, falls es nicht vor einem unparteiischen Ge-
richtshof stattfinden würde.. Der Prozeß gegen Wilhelm H. und
seine Offiziere steht im Widerspruch mit den Recbtsgrundsatzen, die
bisher für unsere Kultur durchgreifende Bedeutung gehabt haben.
Der „Vorwärts" sagt dazu, daß dieselbe Haltung aucy die
deutsche Sozialdemokratie einnehme. Sie will so wenig wie Lund-
stett die Kriegsverbrecher schützen, im Gegenteil, sie bestraft wissen,
aber unter Rechtsgarantien, nicht nach Willkür oder Rache. Dazu
gehört ein internationales, unparteiisches Gericht, dem alle Ver-
brecher, welcher Nation sie immer angehören, vorgefuort werden
müssen. Da dieses nickt zu erreichen ist, die Mucote der Entente
denken nicht daran, ihre Verbrecher freizugeben und können als
Sieger nicvt dazu gezwungen werden, bleibt nur übrig, daß Deutsch-
land seine Schuldigen aus eignem Rechte bestraft vor einem eigenen
Gericht. Die deutsche Republik hat sich dazu bereiterklärt, sie hat
zu diesem Zwecke ein besonderes Gesetz geschaffen, und für die Ver-
Handlungen der Entente Befugnisse eingeräumt, die weit über das
hinausgehen, was Serbien den österreichischen Macmvabern seiner-
zeit zuvmigte.
Prozeß Erzberger-Helfferich.
Berlin, 26. Ian.
Die zweite Woche des Erzberger-Helfferich-Prozesses be-
ginnt mit der wetteren Erörterung des Falles Thyssen. Es han-
delt sich um die Frage, ob der damalige Abg. Erzberger den
Vorschlag des damaligen Staatssekretärs Helfferich auf gesetz-
liche Einführung von Abgaben fürdie Ausfuhr der deut-
schen Industrie im Jahre 1916 deswegen abgelehnt hat, weil er
damals Aufsichtsrat im Konzern Thyssen war, und dann im Jahre
1918 die Reichseinnahmen durch solche Ausfuhrabgaben nicht ge-
stützt habe, weil er damals aus dem Thyssen-Konzern bereits ausge-
schieden war. Der Zeuge des heutigen Tages ist der gegenwärtige
preußische Finanzminister Dr. Südekum, der Auskunft geben soll
über die Frage, weshalb der Gesetzentwurf über die Ausfuhrzölle
der Industrie gescheitert ist. .,
Zu einem klaren Ergebnis kommt es nicht, die Verhandlung
wird vertagt.

Die Wandlung der
Sozialdemokratie.
 
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