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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0113
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Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der AmtSdezirke Heidelberg, WieSwch, Ginsheim, Eppingen, Kberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg,
Tauberbischofsheim und Wertheim.


Nezugspreis: Monatlich einschl. Trägerlohn 2.5» Mk. Anzeigenpreise:
Vie einspaltige Petitzeile (36 mm breit) 46 pfg., Reklame-Anzeigen
l»Z mm breit) 2. — Mk. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Taris.
Geheimmittel-Anzeigen werden nicht ausgenommen.
Geschäftsstunden: 8 - >/,6 ilhr. Sprechstunden der Redaktion: 12—12 Uhr.
Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 22527. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Donnerstag, 29. Januar 4920
Ar. 24 » 2. Lahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft u.Feuilleton: Dr.
E. Kraus; für Kommunales u. soziale Rundschau :Z. Kahn,- für Lokales:
O. Geibel; für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag derllnterbädischen VerlagsanstaltG. m. b.H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redattion 2648.

Das neue Reichstagswahlrecht mit
dem automatischen Proporz.
Die Badische vorläufige Volksregierung und die Badische
verfassunggebende Nationalversammlung können für sich das Ver-
dienst in Anspruch nehmen, daß sie für die Entwickelung unseres
Reichstagswahlrechtes vorbildliches geleistet haben, als
sie aus dem sozialdemokratischen Borentwurf für eine neue badische
Verfassung das dort im 8 28 vorgeschlagene automatische
P r o p o r t i o n a Iw a h l v e r f a h r en in den Regierungsentwurf
(8 24) und von da in die Verfassung selber (8 25) übernahmen.
Der jetzt in der Presse von dem Reichsministerium des Innern ver-
öffentlichte und der Reichsnationalvcrsammlung zugegangene Ent-
wurf für das neue Reichstagswahlgesetz hat dieses badische auto-
matische System übernommen und zwar in der Form, daß nach
8 26 des Entwurfes für jede Partei- oder Wählergruppe auf je
60 000 für ihren Wahlvorschlag abgegebene gültige Stimmen ein
Mandat erhält und daß die in den einzelnen Wahlkreisen sich er-
gebenden Reststimmen unler 60 000 („Spitzen") zusammengezählt
werden, und weiter für je 60 000 Stimmen ein Mandat gewähren.
Für die praktische Durchführung des Verfahrens legt die Re-
gierung drei Möglichkeiten als Entwurf 6 und L zur Aus-
wahl vor:
Nach demEntwurf 8 7 sollen die Wahlkreise so be-
messen werden, daß auf sie in der Rege! 6 Abgeordnete entfallen,
welche in der Listenwahl zu wählen sind, und es sollen nach 88 15
Und 27 die in den einzelnen Wahlkreisen verbleibenden Spitzen
durch das ganze Reich zusammengezählt und auf einen von der
betreffenden Partei eingereichten „Re i ch s w a h l v o r s ch l a g"
verteilt werden.
NachdemEntwurfL sollen die Wahlkreise so verkleinert
werden, daß in ihnen regelmäßig nur 4 Abgeordnete in der Listen-
wahl zu wählen sind, aber mehrere derartige örtliche zusammen-
hängende Wahlkreise zu einem „Wahlverband" (z. Ä. Land oder
Provinz) zusammengefaßt und die in den einzelnen Wahlkreisen sich
ergebenden Spitzen zunächst auf die für derartige Wahlverbände
einzureichenden „Verbandsvorschläge" verteilt werden, und erst
die dann noch verbleibenden Reststimmen dem Reichswahlvorschlag
zugeführt werden.
Nach d-em Entwurf L 88 7 und 29 sollen ebenfalls die
Wahlkreise in der Regel nur 4 Abgeordnete erhalten und es sollen
Mindenens 3 derartige Wahlkreise zu einem Verbandswahlkreis
zusammengefaßt werden, es soll aber den Parteien überlassen blei-
ben, ob sie Wahlkreis- oder Verbandswahlkreisvorschläge einreichen
wollen, um auch denjenigen Gruppen, welche in dem einen oder
anderen Wahlkreis voraussichtlich nicht mindestens 60 000 Stim-
men auf ihren Wahlvorschlag erhalten werden, es zu ermöglichen,
sich mit Wählergruppen oder Parteien eines benachbarten Wahl-
kreises zu verbinden und einen gemeinschaftlichen Wahlvorschlag als
Verbandswahlvvrschrag einzureichen.
Alle drei Vorschläge der Regierung haben ihre Vorteile und
ihre Nachteile.
Ein zweifelloser Vorteil ist die Verkleinerung der Wahlkreise
gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung, wodurch die auf-
Sustellenden Listen kleiner und die Möglichkeiten eines engeren Zu-
sammenhanges zwischen Kandidat und Wählerschaft gegeben werden.
Umgekehrt ist die Schaffung eines „Reichswahlvorschlages"
für das ganze Reich — mit oder ohne Einschiebung von „Verbands-
wahlvorschlägen" — ein Behelfsmittel,- welches zwar die Spitzen
bis auf den letzten Rest ausnützt, aber keinerlei Gewähr dafür bietet,
daß die auf dem Reichswahlvorschlag stehenden Kandidaten tat-
sächlich auch gewählt werden, da unter Umständen in den einzelnen
Wahlkreisen die Stimmenzahl mehr oder weniger vollständig auf-
gehen kann und Reststimmen nicht in nennenswertem Matze übrig
bleiben. Es kann aber auch das Gegenteil stattfinden, so daß
die praktische Bedeutung des Reichswahlvorschlages von vornherein
ganz ungewiß ist, was sowohl für die Auswahl der Kandidaten als
für ihre sachliche Betätigung höchst unerwünscht wäre.
Ei» radikales Heilmittel gegen diese Nachteile bietet
«in Zurückgehen auf den ursprünglichen badischen sozialdemokratischen
Vvrentwurf 8 28 und den badischen Regierungsentwurf 8 24, welche
beide ein Durchzählen der Stimmen durch das ganze Land und
die Aufstellung von Einzelkandidaturen ermöglichten, und welches
wir hiermit als
Gegenvorschlag V
Empfehlen: .
1. In jedem Wahlkreis wird von jeder Partei oder Wähler-
gruppe e i n Kandidat aufgestellt. Mehrfache Aufstellung desselben
Kandidaten in verschiedenen Kreisen ist zulässig.
2. Die auf die Einzelkandidaten entfallenen Stimmen jeder
Partei oder Wählergruppe werden durch das ganze Reich zu-
mmmengezählt und jede Partei oder Wählergruppe erhält für je
b0 000 gültige Stimmen je einen Abgeordneten.
3. Als gewählt gelten der Reihenfolge nach diejenigen Abge-
vrdneten der betreffenden Partei, welche auf ihren Namen in einem
Wahlkreis oder mehreren Wahlkreisen zusammen die meisten Sttm-
wen erhalten haben.
Mit diesem Vorschlag 0, welcher das automatische System am
ursprünglichsten zum Ausdruck bringt, sind alle Schwierigkeiten
^stlos beseitigt. .
Die allenthalben als mißlich empfundene Listenwahl wird
wieder durch die Einzelkandidatur erseht, welche es jeder Partei
ermöglicht, in jedem Wahlkreis die für diesen besonders geeignete
Persönlichkeit aufzustellen. ... ,
Es wird aber auch großen und kleinen Parteien ermöglicht,
weselbe zugkräftige Persönlichkeit auch noch in anderen Kreisen auf-
öustellen, um die letzten Stimmen herauszuholen.
Es fallen für alle Parteien alle Spitzen bis auf je eine weg,
bezüglich deren evtl-, wie in Baden vorgesehen, bei bestimmter Höhe
,'75 Proz. ?) noch ein Mandat gewährt werden könnte, und es er-
scheinen in jeder Partei die Kandidaten ohne weiteres gewählt in
der Reihenfolge, wie sie Wählerstimmen auf ihren Namen er-
balten haben. Alle Verrechnungen und llebertragung auf Reichs-
wahlvvrschläge und Verbandswahlvorschläge wird überflüssig.
In der Badischen Verfassung 8 25 ist dieses reine automatische
System, wie es der ursprüngliche sozialdemokratische Entwurf 8 28

Änderung des
Reichseinkommensteuergesetzes.
Berlin, 29. Ian. (W.B.) Im Steuerausschuß der National-
versammlung wurde bei Beratung des Reichseinkommensteuer-
gesetzes der 8 19 des Entwurfes dahin abgeändert, daß der den Be-
trag von 2000 Mk. übersteigende Teil des Steuerwareneinkom-
mens steuerpflichtig ist. Steuerpflichtigen Familienmitglieder wer-
den Vergünstigung gewährt.
Das Beförderungsgesetz für die Beamten
wird weiter bearbeitet.
Berlin, 29. Ian. (W.B.) Nach dem „Berl. Tagbl." wird
das Besoldungsgesetz für die Beamten trotz der Erkrankung Erz-
bergers intensiv bearbeitet, um bald zum Abschluß zu kommen.
Die Wiederinbetriebnahme
der geschloffenen Eisenbahnwerkstätten.
Berlin, 29. Ian. (W.B.) Bis mittag hatten sich in den ge-
schlossenen Eisenbahnwerkstätten von Berlin, Breslau und Nied
mehrere hundert Arbeiter gemeldet. In Salbke und Jena hatten die
radikalen Elemente Vorkehrungen getroffen, um die arbeitswilligen
Elemente an der Meldung zu verhindern. Für ausreichenden Schutz
der Arbeitswilligen ist überall gesorgt.
Weitere Erhöhungen der Personen- und
Gütertarife der Eisenbahn.
Berlin, 29. Ian. (W.B.) Die deutschen Eisenbahnen be-
schlossen am 1. März eine allgemeine Erhöhung der Güter- und
Personentarife um 100 Prozent eintreten zu lassen.
B ergarbeiteraus stand.
Leipzig, 29. Jan? (W.B.) Im Lugau-Oelsnitzer Steinkohlen-
revier sind heute die Bergarbeiter in den Ausstand getreten. Bis
jetzt sind 75 Protz, der Belegschaften ausständig. Es wird befürch-
tet, daß der ganze Streik auf das ganze Revier und auch auf das
Zwickauer Revier sich ausdehnt.
Das Befinden Erzbergers.
Berlin, 29. Ian. (W.B.) Die heutige Untersuchung Erzber-
gers ergab, daß Schwellungen von Schmerzhaftigkeit des Verwun-
deten noch ständig verändert sind. Eine Infektion ist nicht einge-
treten. Temperatur normal. Puls 120. Der Patient ist erschöpft
und erholungsbedürftig, doch besteht keine unmittelbare Lebens-
gefahr.
Nngarnische Nationalwahlen.
Budapest, 29. Ian. (W.B.) In 108 Wahlkreisen wurden 52
Christlich-Soziale, 39 kleine Landwirte, 4 Demokraten und 2 Par-
teilose gewählt; 11 Stichwahlen sind erforderlich. Ministerpräsident
Huszar sagte in einer Versammlung, die erste Aufgabe der Na-
tionalversammlung werde die Wahl des Staatsoberhauptes sein.


vorgesehen hatte, nicht zur-Durchführung gelangt, weil die Regie-
rung an dem Liftensystem glaubte festhalten zu müssen und die ver-
fassunggebende Versammlung daraufhin ihrerseits, um die Listen
nicht zu groß werden zu lassen, die Zerlegung des Landes in „min-
destens 4 Wahlkreise" beschloß. Kehrt man dagegen von dem
Liftensystem zu dem „einnamigen" System, der Einzelkandidatur
zurück, so entfallen alle Schwierigkeiten, und es ermöglicht das
automatische System die denkbar einfachste und gerechteste Lösung.
Sogar für die „Ausländsdeutschen", welchen die Regierung nach
88 34—37 des Entwurfes ein Wahlrecht gewähren will — eine
Frage, die wohl noch näherer Erörterung im Reichstag bedarf —
würde jene Lösung die einfachste sein, da sie jedem beliebigen Kan-
didaten im Reich ihre Stimme zuwenden oder auch irgendwo eigene
Kandidaten aufstellen könnte.
Wir glauben daher auf Grund unserer langjährigen eingehen-
den Beschäftigung mit der Frage des Proportionalwahlrechtes und
speziell der automatischen Lösung dieser Frage der Reichsregierung
und unseren Reichstagsabgeordneten unseren Gegenvorschlag v
mit gutem Gewissen zur Berücksichtigung empfehlen zu können.
Stad t rat Dr. Dietz-Karlsruhe.

Politische Übersicht.
Die praktische Arbeit des Völkerbundes.
Deutsche Delegierte bei den Beratungen.
Wie aus London gemeldet wird, beginnt der Völkerbund heute
seine praktische Arbeit. Zum ersten Male werden deutsche
Delegierte an den Beratungen teilnehmen. Der Verwal-
tungsrat des internationalen Arbeitsamtes, der im Rahmen des
Völkerbundes geschaffen worden ist, wird zusammentreten, um die
formalen Arbeiten, die sich aus der ersten Konferenz in Washing-
ton ergeben, zu behandeln und zu erwägen, wie den Beschlüssen,
die bezüglich des Achtstundentages, der Nachtarbeit von Frauen
und Kindern in Fabriken, der Arbeitslosigkeit, des Wöchnerinnen-
schutzes und der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren gefaßt wor-
den sind, praktische Gestalt gegeben werden soll.
Der Verwaltungsrat steht unter dem Vorsitz des früheren
französischen M unitionsministers und Sozialistenführers Albert
Thomas und setzt sich zusammen aus Vertretungen der Regie-
rungen von Großbritannien, Frankreich, Belgien, Italien, Kanada,
Spanien, der Schweiz, Dänemark, Argentinien, Japan, Polen und
Deutschland. Er ümfäßt-ferner Vertretungen der Arbeitgeber von
.Großbritannien,' 'Frankreich/"Italien, Ädtgien, der - Tschechv-Slv-

wakei und der Schweiz und Arbeiterdelegierten von Frankreich,
Holland, Großbritannien, Schweden, Kanada und Deutsch-
land.

Förverung des Ltnrsschastslebens in Mitteleuropa.
Berlin, 28. Ian? Aus London wird der „Deutschen
Allgemeinen Zeitung" berichtet: Wie die „Westminster-Gazette"
erfährt, ist Lloyd George mit neu orientierten Plänen aus
Paris zurückgekommen. Der Ministerpräsident ist jetzt der Ansicht,
daß die Strafbestimmungen des Friedensvertrages ignoriert wer-
den müssen und daß Mitteleuropa im freien Handel ge-
fördert werden müsse. Dies sei jedoch nur möglich, wenn der
Kredit Deutschlands wiederhergestellt werde. Möglicher-
weise werde der erste Schritt hierzu in einer großen Anleihe an
Deutschland bestehen.

Ausland.
Die Sorge vor einem deutschen Staatsbankerott.
Zürich, 27. Ian. (Privattelegramm.) In Frankreich taucht
plötzlich, besonders infolge des starken Rückgangs des französischen
Wechselkurses, das Gespenst eines wirtschaftlichen Zusammenbruchs
Deutschlands auf. Besonders der „Temp s", der ja schon öfters
die - militaristische Vergewaltigung Deutschlands kritisiert und ein
wirtschaftliches Zusammenarbeiten gefordert hatte, weist darauf hin,
daß die wirtschaftliche Lage der Alliierten sehr geschwächt sei. Die
gleichen Töne schlägt der „M atin" und das „E chodePari s"
an. Letzteres weist darauf hin, daß durch die Auslieferung der
Kriegsschuldigen die Lage des deutschen Kabinetts noch mehr er-
schwert werde, und kommt dann in ganz überraschender Weise zu
der Folgerung, daß der Vertrag von Versailles r e v i d i e r t w e r-
den müsse. Die im Vertrage vorgesehene Politik des Aus-
saugens Deutschlands auf Jahrzehnte hinaus sei schlimmer und
gefährlicher, als wenn man Deutschland sofort zur Liquidierung
des Krieges gezwungen hätte. Die Forderungen, welche die En-
tente heute an Deutschland habe, könnten durch den Friedensvertrag
nicht eingebracht werden.
* *
*
Uns war es klar, daß man früher ober später zu solchen Erwägun-
gen und zur Erkenntnis der großen Widersprüche und Ungereimtheiten
des Versailler Vertrags kommen mußte. Man kann nicht auf die Dauer
die ökonomischen Grundgesetze der heutigen Weltwirtschaft ungestraft
verletzen; man kann nicht erst Deutschland aussaugen, seiner Produktions-
mittel, Menschen- und Geldkraft berauben, um dann noch alle möglichen
Wiedergutmachungen auf Jahrzehnte hinaus aus ibm herauszupressen.
Der Friedensvertrag wird an seinen inneren ökonomischen und politischen
Widersprüchen zerschellen oder aber er zieht den Zusammenbruch ganz
Europas nach sich.
Der Völkerbund und die schweizerische Neutralität.
Zürich, 27. Ian. Die Botschafterkonferenz in
Paris hat, wie aus verschiedenen Pariser Berichten hervorgehl,
in dem Herrn Advr übergebenen Antwortschreiben zur Frage der
schweizerischen Neutralität anerkannt, daß die Alliierten durch Un-
terzeichnung des Artikels 435 des Friebensvertrages gegenüber der
Schweiz eine Verpflichtung eingegangen sind. Die Bot-
schafter geben zu verstehen, daß sie die Bestrebungen der Schweiz
auf Anerkennung der Neutralität unterstützen würden. Da jedoch
der Völkerbund bereits in Kraft getreten ist, können die Botschafter
nicht an Stelle der Völkerbundsvrgane über die Aufnahme eines
Staates in den Völkerbund entscheiden. Aus diesem Grunde sieht
sich die Botschasterkonferenz, ohne daß sie den Artikel 435 ver-
leugnen möchte, gezwungen, sich gegenüber den Forderungen der
Schweiz Vorbehalte aufzüerlegen.
Wahlenthaltung der Sozialdemokratie.
Am letzten Sonntag fanden die von der Gegenrevolution aus-
geschriebenen Wahlen zur Nationalversammlung statt, die zum
ersten Male in Ungarn nach einem demokratischen Wahl-
recht erfolgten. Einigermaßen klare und sichere Resultate find
noch nicht bekannt. Lieber die Haltung unserer Partei schrieb am
24. d. M. die Wiener „Arbeiterzeitung":
Nun nimmt die Gegenrevolution die Wahlen zur Nationalversamm-
lung vor und nichts ist geeignet, den tiefen Sturz der ungarischen Ar-
beiterbewegung so sinnfällig zu machen, als die Tatsache, daß die Ar-
beiterschaft in dieser Versammlung keinen Sitz und keine Stimme inne-
haben wird, daß diese ungarische Nationalversammlung die einzige
parlamentarische Körperschaft sein wird, die keinen Arbeitervertreter,
keinen Sozialdemokraten unter ihren Mitgliedern zählen wird. Aller-
dings geht die ungarische Sozialdemokratie nicht darum bei den Wahlen
leer aus, weil sie nicht in der Lage wäre, sich eine parlamentarische Ver-
tretung zu erkämpfen, sondern weil sic sich unter dem Drucke des unge-
heuerlichen Terrors zur ALstinenzpolitik entschloß und sich an den
Wahlen nicht beteiligen wird. Die weitere politische Entwicklung wird
darüber richten, ob es klug war, nicht nur aus der Regierung, sondern
auch aus der Nationalversammlung auszufcheiden. Das erste war eine
proletarische Ehrenpflicht und auch ein politisch kuger und notwendiger
Schritt. Leber die Notwendigkeit, und Zweckmäßigkeit der Abstinenz bei
den Wahlen können die Ansichten wohl auseinandergehen. Es ist jeden-
falls eine politische Tragik, daß bei den ersten Wahlen, die auf Grund-
lage des allgemeinen Wahlrechtes vvrgenvmmen werden, die Arbeiter-
schaft, die so lange für dieses Recht gekämpft hat, abseits stehen wird.
Jedenfalls wird durch die Abstinenz der Arbeiterschaft dieser National-
versammlung das Recht, im Namen des ganzen Volkes zu sprechen,
streitig gemacht und die demvkratstcy regierten Staaten werden dieser
Versammlung die Gleichberechtigung nicht zuerkennen, und sie werden sie
nicyt als Organ der Volkssvuveränität anerkennen.

Polen und Rußland.
Wir haben schon in den letzten Tagen darauf hingewiesen, daß
man in Paris und London gewillt» ist, Polen in eine Offensive
gegen Rußland zu treiben für die Interessen des Ententekapitals.
Ein neuer Beweis ist eine Interpellation der polni-
schen Sozialisten, die wir einem Telegramm des Sonder-
berichterstatters des Berliner Tageblatts" entnehmen. Sie lautet:
„In den letzten Tagen haben sich Dinge von grundstürzender Be-
deutuna ereignet. Zunächst spornte man Polen von allen Seiten dazu
an, den Krieg gegen Sowjetrußland mit aller Energie zu
führen. Ja, man kündigte sogar ein Bündnis zwischen England,
Frankreich und Polen zur energischen Führung des Krieges gegen
 
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