Tageszeitung für die werttätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, LZyptngen, Eberbach, Mssbach, Buchen, Adelsheim, Boxber-
Tauberbischofsheim und Wertheim.
Heidelberg, Dienstag, 24 Februar 4920
7lr. 46 » 2. Jahrgang
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Die Not der deutschen Presse.
Weimar, 22. Febr. Die heute hier tagende allgemeine
deutsche Zeitungsverlegerversammlung nahm nach
Eingehender Aussprache über die schwere wirtschaftliche Krisis, in
der sich die deutsche Presse befindet, einstimmig folg. Entschlie-
ßung an: Die deutschen Zeitungen stehen vor einer Katastrophe.
Die völlige Unsicherheit der Papierbelieferung, die ungeheuren
Preiserhöhungen des Druckpapiers, aller Materialien, der Ma-
schinen, Löhne und Gehälter und die Unmöglichkeit, auch nur einen
annähernden Ausgleich der bereits bis zur Bruchgrenze -rückenden
Belastung der Zeitungen zu erreichen, führte heute in Weimar die
Herausgeber der deutschen Zeitungen aus allen Teilen des Reiches
Zusammen. Die Aussprache ergab, daß eine große Anzahl deut-
scher Zeitungen, darunter Blätter von historischer Bedeutung, nur
Noch durch Notkredit e vor dem Zusammenbruch bewahrt
wurden und daß ohne Sicherstellung des Zeitungsdruckpapiers zu
Noch erträglichen Preisen der Zeitpunkt abzusehen ist, an dem die
überwältigende Mehrzahl der deutschen Zeitungen ihr Erscheinen
einstellen muß. Die Reichsregierung ist sich anscheinend der Wir-
kungen einer solchen Katastrophe noch gar nicht bewußt. Es handelt
sich um die Existenz einer Einrichtung, ohne deren Fortbestehen und
Aufrechterhaltung die Wirtschaft und Ordnung in Deutschland den
allerschwersten Gefahren ausgesetzt sein werden und ein Wieder-
aufbau unmöglich ist. Verschwindet die Zeitung mit ihrer wirt-
schaftlichen Vermittelung, mit ihrem Einfluß auf das In- und Aus-
land, verschwindet ihre Aufklärungsarbeit und ihre Ermutigung kn
Deutschlands schwerster Zett, dann tritt das Gerücht, dann treten
die Flugblätter aller zerstörenden Kräfte von drinnen und draußen
an ihre Stelle. Die deutschen Zeitungen wollen keine Liebesgaben
für sich, lehnen sie vielmehr ab, aber sie haben das wohlerworbene
Necyl im öffentlichen Interesse zu verlangen^ daß die Existenzgrund-
lage der Zeitungen sichergestellt wird vor einer sie vernichtenden
Wirtschaft, die durch die grenzenlosen Spekulationen
«nd Schiebungen auf dem Holzmarkt hauptsächlich
den Rohstoff für das Zeitungspapier so verteuert, daß das Papier
für die übergroße Mehrzahl der deutschen Zeitungen unerschwing-
lich wird. Daran ändert nichts, wenn einzelne Unternehmungen
ohne Rücksicht auf die Mehrzahl der Zeitungen und die bewährte
Struktur der deutschen Presse aus besonderen Gründen
Papier zu jedem Preise zu erlangen suchen. Es geht hier nicht um
die Privatinteressen einzelner Verleger, sondern um Sein oder
Nichtsein der deutschen Presse und die Freiheit und Unabhängigkeit
der öffentlichen Meinung. In letzter Stunde richten die
deutschen Zeitungsverleger die dringende Mahnung an die
Neichsregierung, die Regierungen der Länder und die National-'
Versammlung, im allgemeinen Interesse das Erscheinen der Zeitun-
gen zu gewährleisten durch die Sicherstellung einer ausreichenden
Menge von Papierholz zu mäßigen Preisen und dadurch Zeitungs-
druckpapier. Verhallt dieser Nosschrei ungehört, zögern die Re-
gierungen, dann wird der Zusammenbruch der deutschen Presse mit
allen seinen Folgen unvermeidlich.
Präsident Wilson.
8t. Berlin, 21. Februar.
Die Vereinigten Staaten von Amerika erleben jetzt ihre innere
Krise. Seitdem der PräsidentWilsvn nicht eben als diplo-
matischer Sieger, aber mit Ehrungen und Geschenken überhäuft,
zurück gekommen war, hat sich das rechte Verständnis zwischen ihm
Und den übrigen Organen der republikanischen Staatsgewalt nie
wieder eingestellt. Noch immer hat Wilson die Ratifikation des
Friedensvertrages nicht durchsetzen können, noch immer bedeutet
die Einmischung in die europäischen Verhältnisse für ihn und sein
Land nichts anderes als eine Quelle immer neuer Schwierigkeiten.
Amerika hat sich in den letzten Monaten in den europäischen Fragen
fv sehr zurückgehalten, daß man noch immer nicht weiß, wie es mit
feiner Stellung im Völkerbund und in der Wiedergutmachungs-
kommission werden soll. Aber die einzige europäische Frage, für
die sich Wilson noch interessiert, die Adriafrage, hat zu Konflikten
Nach außen und innen geführt, weil Wilson hartnäckig an dem ser-
bischen Fiume festhält, während das übrige Amerika offenbar nicht
das mindeste Interesse daran hat, ob diese Hafenstadt serbisch oder
italienisch oder sonst irgend etwas ist.
Wilson ist über seine auswärtige Politik in scharfen Gegensatz
-um Staatssekretär des Auswärtigen Lansing getreten und hat diesen
durch ein schroffes Tadelschreiben zum Rücktritt gezwungen. Der
Vorgang ist auch in der Geschichte der Vereinigten Staaten ver-
einzelt, aber keineswegs verfassungswidrig, da die Regierung dort
doch nur ein Werkzeug des gewählten Präsidenten ist und vom
Vertrauen der Volksvertretung nicht abhängt. Es ist aber kein
Wunder, daß die Amerikaner diesen Zustand, durch den sie sich
von allen anderen demokratischen Ländern unterscheiden, nicht sehr
Erbaulich und auch nicht sehr demokratisch finden. Nach den letzten
Nachrichten aus Newyvrk scheint es fast, als würde sich dort eine
'Entwicklung vorbereiten, die eher an die türkischen Palastrevolutio-
ven von ehedem als an parlamentarisch demokratische Gepflogen-
heiten erinnert. Die Neigung scheint nicht gering, den Präsidenten
Wilson als einen amerikanischen Abdul Hamid zu betrachten, d. h.
ihn einfach abzusetzen und als Nervenkranken zu behandeln, der er
>a möglicherweise sogar auch ist.
, Wenn uns in Deutschland diese Vorgänge lebhaft interessieren,
w spielen dabei außenpolitische Gesichtspunkte keine so große Rolle
wie innenpolitische. Das Verschwinden Wilsons von der politischen
Bühne würde für Deutschland zunächst sehr wenig ändern. Desto
wehr Grund haben wir aber, aus den neuesten amerikanischen Er-
fahrungen für unsere junge Republik zu lernen.
Unsere Verfassung bietet bekanntlich in bezug auf die Stellung
hes Reichspräsidenten eine Verbindung des amerikanischen und des
französischen Systems. In Amerika wird der Präsident in indirek-
ter Wahl gewählt, er bestimmt die Richtlinien der Politik und er-
nennt die Regierung ohne Rücksicht auf das Vertrauen des Parla-
ments. In Frankreich wird der Präsident von Parlament, Kam-
mer und Senat in gemeinsamer Sitzung gewählt, er ist konstitutio-
nelles Staatsoberhaupt und kann nur solche Regierungen ernennen
oder im Amt behalten, die sich auf das Vertrauen der Kammer
Lenin's Friedensbereitschaft.
Amsterdam, 24. Febr. (W.T.B.) Lenin erklärte
einem Pressevertreter, die Bolschewisten seien bereit,
unter sehr bescheidenen Bedingungen Frieden zu
schließen. Die Sowjetregierung sei nicht Gefahr, durch
militärische Machtmittel unterworfen zu werden. Die Vor-
schläge der Alliierten betreffend den Handel mit Rußland
halte er für einen politischen Schachzug.
Poincare in seinem neuen Amte.
Paris, 24. Februar (W.T.B). In der heutigen
Sitzung der Wiedergutmachungskommission übertrug Jon art
Poincare die Befugnisse eines französischen Vertreters.
Poincare wurde darauf zum Präsidenten ernannt.
Auckland Geddes zum Botschafter in
Amerika?
Bern, 24. Febr. (W.T.B.) Ein Pariser Blatt be-
zeichnet die vorstehende Ernennung von Auckland Geddes
als Nachfolger von Lord Grey zum Botschafter Englands
in den Vereinigten Staaten.
China erhält Kredit.
Amsterdam, 24. Februar (W.T.B.). Die Verhand-
lungen über eine Anleihe Chinas von 20 Millionen
Pfund Sterling verlaufen befriedigend. Die englische
Anleihe wird in Amerika, die französische in Japan
ausgegeben.
stützen können. Die Richtlinien der Politik werden nicht von ihm,
sondern von der parlamentarischen Regierung bestimmt.
In Deutschland ist der erste Präsident von der Nationalver-
sammlung gewählt worden, alle folgenden sollen aber laut Ver-
fassung in direkter Volkswahl gewählt werden. Aber dieser vom
Volk gewählte Präsident soll nicht selbstherrlich wie in Amerika,
sondern konstitutionell wie in Frankreich sein, er ist bei der Bildung
der Regierung an die Meinungen und Wünsche der Volksvertretung
gebunden, und nicht er bestimmt die Richtlinien der Politik, sondern
der dem Reichstag verantwortliche Reichskanzler.
Nicht mit Umecht ist gesragt worden, wozu man bei der Wahl
des Reichspräsidenten den großen Apparat einer allgemeinen Volks-
abstimmung in Bewegung setzen soll, wenn der Gewählte dann
eine so bescheiden konstitutionelle Rolle zu spielen hat, wie die
Verfassung sie ihm vorschreibt. Nicht mit Unrecht ist auch die Sorge
geäußert worden, künftige Präsidenten könnten, aus die Macht-
stellung gestützt, die ihnen die Volkswahl verleiht, dem Reichstag
und der verantwortlichen Regierung gegenüber eine Rolle zu spielen
versuchen, die der Verfassung nicht entspricht. Infolgedessen ist,
besonders von demokratischer Seite, angeregt worden, man solle
doch, bevor durch die Verabschiedung des Gesetzes über die Wahl
des Reichspräsidenten starre Verhältnisse geschaffen werden, an
eine Aenderung der Verfassung schreiten und es bei der Wahl des
Präsidenten durch das Parlament belassen, wie sie bei der Wahl
des ersten Präsidenten bereits erfolgt ist.
Zu einer Verfassungsänderung gehört aber Zweidrittelmehr-
heit der Nationalversammlung, und es ist fraglich, ob sie auszu-
bringen sein wird. Sehr möglich wäre es, daß bei dieser Gelegen-
heit auch noch andere Wünsche nach Aenderung der Verfassung nach
Verwirklichung streben würden, die Nationalversammlung kann aber
die am 1. August v. I. fertiggestellte Verfassung nichr zerstören, um
sie wieder von Grund auf neu auszubauen.
Sachlich scheint es richtig, daß die direkte Volkswahl des Prä-
sidenten ein Konstruktionsfehler der Verfassung ist. Könnte man
ihn, ohne neue Schwierigkeiten Hervorzurusen, beseitigen, so wäre
es erfreulich.
* *
Wenn wir auch die großen wahltechnischen Schwierigkeiten einer
allgemeinen Bolkswahl des Reichspräsidenten nicht verkennen (ohne in-
direkte Wahlkörperschaften wird man kaum auskommen!), so möchten wir
doch die Volkswahl an sich nicht für einen Konstruktionsfehler der Ver-
fassung hatten. Das große staatsrechtliche Problem jeder modernen De-
mokratie ist genügend, demokratische Regulativsaktoren gegen die Allein-
herrschast des repräsentativen Parlaments zu schaffen; dahin gehören
Volkspräsident und V o lks r es er e n d u m. Bei der ganzen
sonstigen Konstruktion der politischen Gewalten in der Reichsverfassung
wird eine allzugrvße Möglichkeit von Macht- oder gar Verfassungs-
übergriffen des Präsidenten nicht zu befürchten sein.
Politische Ueberstcht
Was geht in Deutschland vor?
Heidelberg, 24. FebrE.
Line wüste Versammlungssprengung durch eine Horde balti-
scher Soldaten hat sich am Freitag abeich in Charlottenburg ereig-
net. Dort sollte in der Aula des Kasser-Friedrich-Realgymnasiums
in einer Versammlung des „Bund Neues Vaterland" Herr Hel -
muth von Gerlach über die Auslieferungsfrage
sprechen. Er hatte kaum einige Sähe seines Referats vorgetragen,
als er durch wüsten Lärm unterbrochen wurde. Der Versamm-
lungsleiter Dr. Gumpel sorderte darauf die Radaumacher auf,
den Saal zu verlassen, wenn sie die Redesreiheit nicht respektieren
wollten. Darauf erhob sich ein geschlossener Haufe von etwa 40
bis 50 Baltikumern unter Anführung von Offizieren, aber nicht
etwa, um den Saal zu verlassen, sondern um das Podium zu stür-
men. Es kam zu einem wüsten Handgemenge, bei dem
sowohl der Versammlungsleiter wie der Referent schwer miß-
handelt und blusig geschlagen wurden. Herr von Gerlach
mußte verletzt fortgetragen werden. Auch Frauen wurden von den
Rohlingen in wüster Weise beschimpft und tätlich angegriffen. Der
Radau trug auch einen stark antisemitischen Charakter, es
wurde geschrien, daß Juden überhaupt nicht in Deutschland reden
I dürften. (Wir wissen nicht, ob Herr von Gerlach von den Radau-
! brüdern für einen Juden gehalten wurde.) Auf der Straße feierten
die Banditen dann ihren „Sieg" unter Hochrufen auf die
Monarchie und Schmährufen gegen die Regierung. Sicher-
heitsmannschasten waren nicht zur Stelle.
Der „Vorwärts" bemerkt dazu:
Die „Deutsche Tageszeitung" hat vor wenigen Tagen Leute,
die in dieser Weise Versammlungen sprengen, als „politische
Banditen" bezeichnet und gefragt, wielange dieRegie-
rung diesem Treiben müßig zusehen will. Wir
stehen nicht an, die Bezeichnung wie die Frage des alldeutschen
Blattes uns zu eigen zu machen. Wir fragen die Regierung: „Wie
lange will sie noch dulden, daß ein Haufen verrohter Landsknechte,
Meuterer und Deserteure anständige mü> ruhige Bürger terrori-
siert und die politische Meinungsfreiheit vergewaltigt? Wir fordern,
daß das baltische körperlich und sittlich gleich verkommene Ban-
ditengesindel, das uns als einzigen Segen in Deutschland eine ge-
waltige Zunahme der Geschlechtskrankheiten beschert
hat, unter strenger Bewachung in Konzentrationslagern interniert
wird, wo es keinen Schaden mehr anrichten kann. Selbstverständ-
lich ist strengstens durchgeführte Entwaffnung erste Voraussetzung.
Die Bevölkerung hat es satt, von diesen Elementen, die von Rechts
wegen ins Gefängnis und Zuchthaus gehörten, auch noch
Gewalttätigkeiten einstecken zu müssen.
Ueber die Vorgänge selbst erfahren wir noch folgendes:
Schon nach den ersten Sätzen Gerlachs machten sich viele Stö-
rungsversuche bemerkbar. Immer zahlreicher wurden die Zwischen-
rufe, immer stärker die Störungen. Als Gerlach dann der konservativen
Presse ein paar ironische Worte sagte, wurde der Lärm so groß, daß er
nichr mehr weitersprechen konnte.
Inzwischen hatten sich auf beiden Seiten des Saales zahlreiche der
oben geschilderten merkwürdigen Gestalten nach vorn zum
Rednerpult geschoben. Die Akteure handelten zweifellos nach einem
genau vorbereiteten Plane. Während die einen jetzt Schmäh- und Droh-
rufe gegen die Juden, die Iudenregierung und die Republik ausstieben,
— „nur Nvske ist der einzige anständige Mann in dieser Regierung", ries
einer von ihnen — verhielten sich die anderen noch abwartend. Plötzlich
sprang einer dieser Burschen, ein großer starker Mensch mit einer riesigen
Mühe und gekleidet wie ein Zuhälter, der bisher mit am meisten gebrüllt
und gehetzt hatte, auf das Rednerpult, stieß Herrn von Gerlach
hinunter, schlug den nebenstehenden Herrn Gumbel, den
früheren Sekretär des Bundes Neues Vaterland, mit der Faust ins
Gesicht und intonierte von oben das Lied „Deutschland, Deutschland
über alles", dem er ein Kaisers; och folgen ließ.
Nun folgte ein wüstes Durcheinander. „Juden raus", „drauf
und dran", „haut sie" und ähnliche Rufe ertönten. Die Ausführung
ließ nicht lange auf sie warten. Immer neue Leute, auch besser gekleidete,
beteiligten sich. Mit Fäusten, Gummiknüppeln und Schlagringen wurde
losgeschlagen, Frauen hingcworsen und getreten, ruhig dastehende Männer
blutig geschlagen. Dazwischen immer Rufe: „wo ist Gerlach, nieder
mit ih m!" Als einer ihn dann entdeckt hatte, wurde er furchtbar zu-
gerichtet, er erhielt Tritte in den Leib und furchtbare
Schläge auf Kops und andere Körpert e i l e. Nur dadurch,
daß einige beherzte Frauen sich dazwischenwarfen, entging er noch viel
furchtbarerem. Zahlreiche andere Männer erlitten starke Verwundungen,
so Gumbel ein tiefes Loch am Auge, fo daß er b l u t ü b e r st r ö m t auf
die Straße kam.
Die mit Revolvern, Schlagringen, Messern und
Gummiknüppeln ausgerüstete Bande konnte ungestört wüten, war
doch auch kein einziger Sicherheitsjoldat aufzutreiben. Selbstverständlich
stahlen und zerstörten die Unholde alles, was ihnen nur erreichbar war.
So wurde fast der gesamte Bücherbestand mehrerer Bücherhändler, die
pazifistische Schriften feilhielten, teils gestohlen, teils zerrissen und teils
in die Wasserleitung geworfen und so völlig vernichtet. Auch Kleidungs-
stücke und Aktenmappen verschwanden.
Als schließlich die von mehreren Bersammlungsbesuchern herbeige-
rufene Sicherheitspolizei erschien, war die Hauptsache natürlich vorüber,
und der größte Teil der Verbrecher hatte sich längst aus dem Staube
gemacht. Immerhin wurden einige der Herrschaften noch festgenommen.
Bei ihrer Vernehmung stellte es sich heraus, daß sie fast sämtlich den
Noske-Ausweis zum Wasfentragen besaßen. Unverständlicherweise wur-
den die Festgenommenen nach Angabe ihrer Persönlichkeit wieder ent-
lassen.
Nach Angabe aller anständigen Versammlungsteilnehmer ist es ganz
zweifellos, daß sämtlicheRädelsführerwie überhaupt der aller-
größte Teil der Demonstranten verkappte Offiziere waren. Die Gesichter
verrieten sie aufs bestimmteste, besonders wenn sie ihre Schiebermützen
abnahmen. Auch zahlreiche D a l t i ku m e r mit r u s s i f ch e n Abzeichen
befanden sich darunter, ferner auch Offiziere in deutscher Uniform.
Derselbe Skandal in Stuttgart.
Stuttgart, 22. Febr. In einer gestern abend abgehalte-
nen Versammlung der Friedensgesellschaft führten natio-
nalistische Elemente stürmische Szenen herbei. Schon der erste
Redner, der hessische Kultusminister Dr. Strecker, wurde be-
ständig unterbrochen. Als dann Prof. Dr. Nicolai (Berlin)
sprechen wollte, wurden gegen ihn Beschimpfungen geschleudert, die
eine Schlägerei zwischen den Anhängern der Friedensgesell-
schast und den Nationalisten auslösten, bei der ein Teilnehmer am
Kops verletzt wurde. Ein ehemaliger Hauptmann der Fliegerstaffel
Neuruppin, Doerr, erhob gegen Nicolai den Vorwurf der Fah-
nenflucht und der Verleitung dreier Soldaten zur Desertion, woraus
sich nun wieder eine heftige persönliche Auseinandersetzung zwischen
Nicolai und Doerr entwickelte.
*
Jeden Tag mehren sich in ganz Deutschland die Anzeichen, dass
die nationalistische Reaktion jetzt zu planmäßigem Vorstoß ausholt.
Und das gerade in einem Moment, wo wir es dringend nötig haben,
das Vertrauen des Auslandes wiederzugewinnen, ihm zu beweisen,
daß wir nicht nur die beste demokratische Verfassung der Welt aus
dem Papier haben, sondern daß wir auch wirklich demokratisch
fühlen und handeln. Statt dessen wütet die Reaktion wie nie; die
Reichswehr wird immer reaktionärer. Und will jemand in einer
Versammlung für Verständigung und Völkerbund sprechen, so muß
er vorher sein Testament machen. Das Proletariat, das infolge
der Sabotage des Unternehmertums und der Preistreiberei eines
wucherischen Kriegsgewinnlertums im furchtbarsten Kampf um
Sein oder Nichtsein steht, hat diese Dinge jetzt endlich satt. Wir
rufen: Regierung, zeige dich endlich stark auch nach rechts. Oder
soll vielleicht im neuen Deutschland die Reaktion, die tagtäglich den
Sturz der Demokratie predigt, mehr Freiheitsrechte haben, wie di«'
Linksrsvvlutionäre, denen man Versammlungen und Presse ver-
bietet, trotzdem sie als Kämpfer für Proletariat und Sozialismus
heute mehr weltgeschichtliche Existenzberechtigung haben als die,
welche Europa in Krieg uNd Elend gestürzt haben?