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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0019
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Eseröach, Mvskach, Boche«, Adsrsheim, Bvxösrs,

HMMsrH, DimsiSH, 6. Januar '19-26
M'. 4-2. LahrSrms

Derantwörtt.: Für innere, u. äußere Politik, DokkSwirtschast mFeuIktfim: Nr.
«.Kraus- für Kommunales u. seMeRundschau: I.'Kahnj fürLcstakeS:
O.Seibekr für ble Anzeigen: H. Hoffmann, sämfthh in HeiMbärg.
Druck und Verlag der ttnterb'adischen Berlagsqvstatt G. m. b. H., Hett-clderg.
Geschäftsstelle: Gchröderstraße?-y.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2073, Redattion L6W.

WKS^x-s^i Sjp',rMch elnW. Lrägeriohn ?..so Mf. AixzslgMpretft:
>e «rqpalLge pelltzmo ,(:sv mm breit) 40 Pfs.., RellawsÄn^iqea
mm drclj) r. -Ml. Lei Me-echoluwzett 'Aachkß nach Tarif.
GcheinMilttrk-älnzeiari! vrrdeu nicht ausaenornmen.
».MftWund«,-.q-> ch klhr. Sp^chsinnden barRrdafftan- ir - t? Uhr.

^KsSzr^mH für Sie swrkEise Lsvvrkeru«« der Skmisvezirke HEidsiderg, Mesksch, GLrrstzeiM, EppiWM,
_ La« serHjschsfshriM a«ö Werchrim.

Politische Übersicht.
Das neue Ne ichsLags Wahlgesetz.
Uehernahvre des basischen auton'atisck-rn Proporzes.
wenigen Wochen wird das deutsche Volk den ersten Reichs-
s»2 xsl' deutfcherr Republik zu wählen Haden, der das Provisorium
-2 Efastunggcbenden Natiorralversammlung ablos en wird. Es
ünn nahe, den Reichstag einfach auf Grund des Wahlgesetzes
son Je ^^Versammlung wählen zu lassen. Doch sind Regierung
wre Nationalversammlung davon adgekommen, da diese
d'ti,. noch eine Menge Ungerechtigkeiten und Uneben¬
wad? 5^"It, die es bei der Schaffung des endgülligcn Reichs-
zu besciügen gilt. In wenigen Tagen wird das neue
hi^^^hitzesetz veröffentlicht werden; wir werden es dann an
'"stelle eingehend besprechen.
offiziösen Mitteilungen geht hervor, daß grundlegende
m.fI^ungen des Wahlgesetzes zum Badischen Landtag in das
-^^wahlgesetz übernommen werden sollen. So einmal das von
ifteru Genossen Dr. Dietz stammende Prinzip des automatischen
K.A'orzes. D. h. die Zahl der Abgeordneten steht nickt von vorn-
weU --^knwftsch fest, sondern richtet sich nach der Zahl der je
wi>'^ ' , einzelnen Parteien abgegebenen Stimmen. Dabei
; " je 60 006 Stimmen l Mandat kommen. Dazu
^1!? dieDnrchzählung der Refrstimmen durch das ganze
Dafür sind verschiedene Vorschläge in dem Entwurf ent-
P. 2/ Die nicht verbrauchten Stimmen und die Stimmen eines
wcriker weniger als 60 000 Stimmet! erlangt Hal,
»... f'^uach dem einen Vorschlag für das ganze Reich, nach an-
uot ' ^vrschlägen erst für eine bestimmte Anzahl von Wahlkreisen
'' bann für das ganze Reich zusammengerechnet und
«I r^ bOOOO dieser Reststimmen soll wieder je ein Ab-
« .rdnxter enffallen. Außerordentlich wichtig ist natürlich die Lin-
Uung der Wahlkreise, für die in den Entwürfen auch
. .'chiedene Vorschläge gemacht werden. Wir werden
ven einzelnen Fragen nach Veröffentlichung des Entwurfes
^nvng nehmmr.
r-r 4r -.l?
Vekanntlich ist seit einiger Zeit in der reaktionären Presse eine
z.''^NMche Hetze gegen das kommende Reichstagswahlgesetz ent-
Die „D e utsche Allgem. Zeitung" schreibt dazu:
len diesen Unchändeu ist es unverantwortlich, wenn von der rech»
K.^^erte in demagogischer Art von vornherein gegen die Pläne der
inncI^^vng gearbeitet wird. Man muh sich an das alte Wort er-
- -.Ich kenne die Absichten der Regierung, nicht, aber ich mißbillige
Är-i-i^i „Korrespondenz der deutschnanonalen Vvikspc.ttei" stt ein
Nsiöm ^I^Knen, worin in oberflächlicher und gehässiger Weise all das
sii: mnengetragen wird, was in diesen Fragen ringsherum im Lande
»«!- ^ve-chen pou rechtsstehender Seite gemunkelt wird. Es wird darin
ch2'Pfstiaubiich" erklärt, daß bisher noch nicht einmal seststchc, in wei-
'lf die Neuwahlen zum Reichstage vorgenommen werden sollen,
ikdcr und namentlich jeder Parlamentarier, weiche
»er!, ", Fülle von Aufgaben der Reichsregierung und der Nationai-
Schtzg in den letzten Monaten ohgelegen hat und wie groß die
Seiten Hub, die der Regelung der Wahlvurterie entgegensteheu.
jedc--, ^ngc Zeii hm es nach Ankündigung einer Dahircchtsvoriage denn
Aw- - P N Preußen unter dem alten Regime gedauert, dis auch nur die
her'.,, Vorlage wegen Abänderung des Dreiklasienwahlrechts
T msge-bracht wurde? ' Es wird dann von dem „Schacher und dem
^r Medrheitsparteien hinter den Kulissen" hinsichtlich der Fest
"r Wahlkreise und der Gestattung des Perbältnisivahisyslems
obwohl es jedem Kundigen bekannt ist, daß innerhalb der
^..Pi^Utparteien, wenigstens bis vor kurzem die Meinungen'darüber,
beste Wahlsystem jein werde, doch keineswegs geklärt wa-
mTman sich erst in einer Sitzung der klntcriommissivn des Rersas-
pTP^Uchchussev, also in Gegenwart rmd ohne Widerspruch der R'echts-
--nachgerade tlargewordcn" sei, „daß sie die Mehrheit nicht im
. W^vn" und daß sie daher „versuchten", sich durch künstliche Mittel
dr2 Mehrheit zu retten. Solche Vorwürfe machen sich im Munde
Unb jb^vteien, die noch Isis litt 8 am KiajfenwFhtrecht sestgehalten haben
.'"V die eine ungesunde Wahlgeometrie das" beste Mittel zur Aufrecht-
ihrer MinderheitsherrfÄast war, wenig schön. Es ist aber
am Selbsttäuschung zs glauben, daß die Parteien, die bei der Wahl
Januar insgesamt rund LllWülM Stimmen gegenüber
Mel^ Stimmen aller übrigen Parteien ausgebracht hatten, jetzt nicht
Mehrheit im Volke haben sollten. Jedenfalls wird gerade das
stim> ''^^Ministerium des Innern vorgeschlagene System, das die Rest-
Klor^" ^^Kr Patteien bis zum äußersten ausnutzt, mit unzweideuttger
tz, -fb'-K sestlegen, wer die Mehrheit im Volke hinter sich Hal. Das neue
Web u veHindert gerade, daß durch „künstiichc Mittel" eine Pariaments-
M i > Wchasten wird, obwohl sie, wie wir oben gesehen haben, noch
Weise feststeht, kann eben nicht, wie das beim alten Mehrheits--
da.??' Fall sein konnte, dazu dienen, für die eine oder andere Partei
PW^Pdiglrick zu korrigieren, es kann nicht den Gesamtbestand irgendeiner
hei^^ Reiche modern, sondern lediglich auf die Frgae einen Einfluß
Wadi,' w^cke Persönlichkeücn innerhalb der einzelnen Parteien als ge°
dettr-O" betrachten sein werden. Es ist Demagogie oder völliges Miß-
^^nehen b<>z gpptanim Systems, wenn die Wahlkreiseinteilung bezeich-
aiz ein Mittel, für die Mebrheitsparteien „gute Wahlen" zu
Wir wiederholen: auf das Gesamtresultat hat die Frage, wie
yjP hder wie Nein die Wahlkreis? genommen werden, überhaupt keinen
do "Ä' !dde Partei bekommt unter allen Umständen die Gesamtzahl
'' -"iandatcn, die ihr auf Grund ihrer Gcsamlstiinnienzahi zufteht."
Ai-.ziert«! für den Rntersuchungsausfchuß.
Dokumente zu den Friedensmvglichkertcn des Jahres 1017.
8^. "aris, 3. Ian. iWolff.) Nach einer Havasmelduna bringen die
ber^?^ »nsführliche Auszüge aus den auch von der englischen Presse
z c T ^"gekündigten Dokumenten über die geheime Mission des Prin-
r, v S > .rI » s von Parma ich Jahre 1917 beim Kaiser Karl
vu! x O ester r ei ch. Danach begab sich der Prinz bereits im Januar
Mi, W' Ruf feiner Mutter hin in die Schweiz, da Kaiser Karl wünschte,
Ww« V direkt über den Frieden zu sprechen. Er empfing dort einen
Mm, Kaisers, der dessen Friedenswunsch bestätigt, und teilt seiner
Anw. die nach seiner Ansicht nach grundlegenden Friedenshedin-
mit: Rückkehr Elsaß-Lothringens an Frankreich, Herausgabe
-H.M ">ck Serbiens und Kebergabe Konstantinopels an Rußland.
Pirn cstF^ruvr ist der Prinz von neuem in der Schweiz und empfängt
tvi^ Gesandten des Kaisers mit einem Briefe desselben. Am 8. März
iu Prinz von Poincare empfangen, dem er ein Schreiben Czernins
'verbringen hat. das Poincare aber als unbestimmt und verschwom-
l'ar "vpsindct. Ein geheimer persönlicher Brief des Kaisers dagegen ist
kii'c^ Ä ^stimmt und erklärt: „Wir werden Frankreich unterstützen und
' " Druck aus Deutschland ausüben." Diesen Bries hält Poincare für

Die RaLisiksLion am 10. Januar.
Paris, 6. Jan. (W.T.B.) Kavas-Meldung. Am Montag
vormittag wurde der Text der vom Obersten Rat angenommenen
Formel bezüglich der Kompensation für die Zerstörung der Srapa-
Kiow-Flotte Herrn von Lersner überreicht. Ma« hat sich mit der
deutschen Delegation über die Formulierung endgültig geeinigt, so
daß der Unterzeichnung des NatWotionsprotokolis des Friedens-
vertrags nichts «lehr eatgegensteht. Der Austausch der Unterzeich-
nung wurde auf Samstag, den 10. Ian., festgesetzt.
P a r is, 5. Jan. Der „Temps" meldet: Der Fünferrat
wird morgen u. a. auch die Abmachungen betr. bas von Deutschland
zu liefernde H a j c n m a l e r i a l behandeln. Minister Loucheur
und Generalsekretär Dutafta hätten gestern nachmittag verban-
delt. Die letzten Schwierigkeiten schienen so gut wir beseitigt zu sein.
Man glaube, das Inkrafttreten des Friedensver-
trages würde sich möglicherweise um 48 Stunden auf den 8. Ian.
verschieben. Die „Chicago Tribüne" sagt jedoch, das Protokoll
könne frühestens am 15. Januar unterzeichnet werden. Der „In-
transigeant" stellt einen Fortschritt in den Verhandlungen mit Frei-
herrn von Lersner fest, so daß man für demnächst ein'Ergebnis er-
warte. Aehnlich schreibt auch die „Liberte".
Die Nachforschung nach VerrmtzLerr.
Berlin, 6. Ian. (W.T.B.) Zur Förderung der Vermißten-
Nachforschung werden alle,aus der Kriegsgefangenschaft Zurückge-
kehrten, die die Vermißtenliste erhallen haben, gebeten, im Interesse
ihrer Kameraden und deren Angehörigen die Listen, die sie nicht
mehr brauchen, dem Zentralnachweisamt für Kriegsverluste und
Kriegergräber Berlin Rordwest 7, Dorotbenftr. 48, umgehend zu
übersenden. Die Liste wird hier dringend benötigt. Jeder einzelne
hier lebende Kriegsgefangene wird gebeten, die kleine Mühe der
Zurücksendung nickt zu scheuen. Jeder Hilst damit am allgemeinen
Werk, den Verbleib der vermißten Kameraden festzustellen.
Der VeesicherrmgsfLrM.
Berlin, 6. Ian. (W.T.B.) Die geheimen Abstimmungen in
den Versicherungsbetricben ergaben etwa 87 Proz. der abgegebenen
Stimmen für den Streik. Die Entscheidung, ob in den Ausstand
getreten werden solle oder nicht, wird im Laufe des Dienstag er-
folgen. Man will sich nicht allein auf Berlin beschränken, sondern
auch die Angestellten im ganzen Reiche befassen.
Die Hoffxrmrg ü.rrf die Weltrevolrrtron.
Berlin, 6. Ian. (W.T.B.) Der „Vorwärts" veröffentlicht
eine Neujahrsproklamation der Sowjetregierung an das russische
Voll, in dem die Hoffnung auf die Weltrevoluiron und bas Ein-
setzen von Sowjets auch in Berlin, Washington, Paris und London
ausgedrückt wird. Die Proklamation schließt: Es lebe das Re-
volutionsjahr 1920.
Die M serrb echnertar isN erhand lurrgen.
Berlin, 6. Ian. (W.T.B.) Die Tarifverhandlungen zwi-
schen der Eifenbahnverwaltung und den Gewerkschaften der Eifen-
bahnarbeiter sind heute nachmittag wieder ausgenommen worden.
Morgen beginnen die Einzelberatungen, die nunmehr ohne Unter-
brechung weitergeführt werden sollen, um den Tarif so schnell wie
möglich fertigzustellen.
Dis ir-terRatiLmale VölLerbrrndsanleihe.
A mstcrdam, 6. Ion. Der*,Nieuwe Courant" meldet aus
Newoyrk, Sir Paifh erklärte in einer Unterredung, um das zerstörte
Gleichgewicht Europas wieder herzustellen, sei eine internationale
Anleihe von 35 Milliarden Dollar notwendig. Diese Summe wird
von allen Unterzeichneten des Bölkerbundsvertrags garantiert wer-
den müssen.
- Wilssrr rmd der Völkerbund.
Paris, 5. Ian. Laut „Chicago Tribüne" ist der amerika-
nische Botschafter in Paris, Wallace, von Washington aus
benachrichtigt worden, daß Wilson den ausführenden Rat des Völ-
kerbundes gemäß dem Friedensvertrage einberufen wolle, selbst
wenn der Senat bis dahin den Friedensvertrag noch nicht ratifiziert
haben sollte.

eine Grundlage zu Verhandlungen. In die Schweiz zurückgekehrt, trifft
der Prinz mit dem Grafen Lrbcell zuianrmen, der vom Kaiser geschickt
ist, und übergibt ib« einen von Oesterreich anzunehmenben Friedens-
entwurf. Am 23. März treffen sich die Prinzen Sixtus und Xaver ins-
geheim nut dem Kaiser auf Schloß Laxenburg. Der Kaiser erklärt,
alles tun zu wollen, um Deutschland zum Frieden geneigt zu machen; da
er die Monarchie dem Wahnwitz der Nachbarschaft aber nicht opfern
wolle, sei er auch zu einem Sonderfrieden bereit. Tinen Tag später
überreichte der Kaiser dem Prinzen einen Brief mit genauen Angaben.
Am 31. März har Prinz Sixtus eine Unterredung im Tlyset und am
12. April findet eine Zusammenkunft zwischen dem Prinzen Sixtus uns
Poincare statt. Dem Prinzen wird mftgeteilt, daß Eugland dem Plan
günstig gesinnt ttt. Inzwischen rvird auch Italien ins Bettrauen gezogen.
Am 25. April yat Prinz Sixtus eine neue Zusammenkunft mit Trdceti
in der Schweiz. Am 24. Mai überbringt Trdceli dem Prinzen die er-
staunliche Nachricht, daß der Kaiser ihm mitgeteilt habe, ein Abgesandter
Cadornas sei vor drei Wochen in Bern gewesen, um Oesterreich den
Frieden gegen Abtretung des Trentine anzubieten. Prinz Sixtus reist
neuerdings noch Wien, erhält dort ein neuerliches Handschreiben des
Kaisers, in dem alle diese Tatsachen zusammengefaht bestätigt werden.
Der Kaiser erklärte, er sei entschlossen, seine Pläne durchzukämpsen, ver-
lange aber Sicherungen. Tzernin erklärt, das drohende Auftreten des
deutschen Hauptquartiers könne ihn nicht einschüchtern; er verlange Ver-
handlungen. Die dem Bries Kaiser Karls beiliegende Note Czernins ver-
langt für den Fall von Grenzberichtigungen Bürgschaften hinsichtlich der
Unversehrtheit der Monarchie. Tzernin versichert aut Grund dieser Be-
dingungen könne Oesterreich einen Sonderfrieden schließen. Der Prinz
hat am 20. Ma» Unterredungen mit Poincare und Ribot und am 28. Mai
mit Lloyd George und dem König von England in London. Die wei-
teren Ergebnisse wartet der Prinz in Paris ab. Aber dann zerschlägt
sich alles. Der letzterwähnte Bnef des Kaisers wird von der Entente
nicht beantwortet. *

Die Bilsnz des Unabhängigen
Parteitages*.) *
li. .
Kr. Heidelberg, dem 6. Ian.
Vrr allem hatte der Parteitag sich die Aufgabe gestellt, em
neues Aktionsprogramm zu schaffen; das Programm des außer-
ordentlichen FrühjohrLparteitages wurde von vielen als nicht mehr
ausreichend angesehen. Die Gegensätzlichkeit der radikalen und ge-
mäßigten Gruppen hatte sich immer mehr verschärft, sodaß von
allen Seiten an die Parteileitung die Forderung ergangen war, doch
endlich einmal über die Parteitaktik Klarheit zu schaffen. Diese
Klarheit sollte das von Crispien dem Parteitag vorgelegte Pro-
gramm bringen, das auch nach einigen unwesentlichen Aenderungen
einstimmig angenommen wurde. Zur Festigung und zum Verständ-
nis unserer eigenen Parteitaktik, zur Klärung der gegenwärtigen
politischen Situation und der Art des kommenden Reichstagswahl-
kampfes ist es nötig, daß wir uns etwas eingehender (soweit es uns
der Raummangel gestattet) mit diesem Programm der U.S.P. be-
schäftigen.
Zunächst ist festzustellen, daß Crispien in seinem Referat das
Programm mit einer fast unglaublichen politischen Ober-
flächlichkeit eingesührt hat, eine Oberflächlichkeit die
um so beschämender ist, als sie nicht nur keinen Widerspruch, sondern
lebhafte Zustimmung erfahren Hal. Nur da und dort wurden in der
Diskussion vereinzelte kritische Stimmen laut, die aber keinen gro-
ßen Anklang fanden. Crispien hatte den Ton dieser radikalisierten
U.S.P.-Masscn getroffen. Von den ganzen großen und schweren
politischen Problemen, die der deutschen Sozialdemokratie heule er-
wachsen, einmal aus ihrer marxistisch-wissenschaftlichen Fundamen-
tierung einerseits und dann aus ihrer eigenartigen staatspolitischen
Entwicklung im Kriege und in der Revolution andererseits sprach
Crispien kein sachliches und objektives haltbares Wort; er trieb le-
diglich S t i m m u n g s p o l i L i k mit abgedroschenen Schlagwor-
ten übelster Sorte. Da sind einige von ihnen: „Wir nennen uns,
eine unabhängige Partei und lehnen es ab, mit bürgerlichen oder
opportunistischen Parteien unsere Politik zu vermischen." „Wir
verspüren keine Neigung, Noskesvzialisten zu werden." „Wir for-
dern die Diktatur des Proletariats. Nvske und Ebert haben ent-
weder das sozialistische Programm nickt verstanden oder sie sind be-
wußt Lügner." „Daß man durch den Parlamentarismus zur Macht
komme war immer eine Illusion der Sozialisten. Kns ist dm Par-
lamentarismus nur ein Mittel, um der Regierung und den übrigen
Parteien die Maske vom Gesicht zu reißen." Daß Crispien mit
solchen Tönen die Massen mit sich reißen konnte, ist wohl keinem
unverständlich, der sich auf Masienpsychologie versteht. Wer den
Mund am weitesten aufrecht und am meisten hetzt hat auch den
größten Zulaus. Aber mit verantwortungsvoller Politik hat eine
solche Demagogie nichts mehr zu tun.
Den gleichen 'Schlagwortcharakter trägt nun das neue Aktions-
programm selbst. Was gut an ihm ist, stammt aus dem „Erfurter
Programm". Daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur das Werk
der Arbeiterklasse selbst sein kann, weil nur sie ein unmittelbares
Interesse an der sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaftsord-
nung hat; daß dieser Befreiungskampf ein internationaler ist —
alles das brauchen wir nicht von den heutigen Unabhängigen zu ler-
nen, das steht alles viel besser bei Marx und Lasalle im „Kommu-
nistischen Manifest" und im „Erfurter Programm"; das war die
Praxis der großen Führer unserer Sozialdemoiratie von Bebel und
- Wilhelm Liebknecht bis aus unsere heutigen Führer in Regierung
und Reichstag. . Und wenn nun das Aktionsprogranrm so schön
im Einzelnen die verschiedenen Sozialisierungsforderungen aufftellt,
so weiß jeder, der ehrlich und objektiv gerecht ist, daß dies genau die
Forderungen find, für die heute unsere Partei kämpft und ringt,
daß das sami und sonders unsere Ziele sind, weil es eben seit Marx
und Lassalle die Ziele der proletarischen Sozialdemokratie über-
haupt sind.
Aber der Schwerpunkt des Aktionsprogramms ruht ja nicht in
diesen Prinzipien und Zielen sondern in der Takti k, d. h. in dem
Weg, der gegangen werden soll, um diese Ziele und damit die so-
zialistische Gesellschaft zu erreichen. Welches ist nun der Weg, der
hier gewiesen wird? Worin unterscheidet er sich von dem unsrigen
u. warum lehnen wir ihn ad? Vor vornherein muß auch hier gesagt
werden, daß auch bezüglich der Taktil die Schlagworte des Pro-
gramms ziemlich unklar und dehnbar sind und daß, wie wir bereits
in unserem ersten Artikel gezeigt haben, die Auslegungen auch in-
nerhalb der tt.S.P. selbst durchaus verschieden sind.
Im Mittelpunkt der Taktik steht die Diktatur des Proletariats.
Es heißt da: „Die Diktatur des Proletariats ist ein revolutionäres
Mittel zur Beseitigung aller Klaffen und Aushebung jeder Klassen-
herrschaft zur Erringung der svzialistffchcn Demokratie. Mit der
Sicherung der sozialistischen Gesellschaft hört die Diktatur des Pro-
letariats auf und die sozialistische Demokratie kommt zur volle«
Entfaltung." Dieser Satz klingt ja sehr jchon und revolutionär;
was besagi er nun eigentlich? Darüber müßen uns noch andere
Sätze des Programms Auskunft geben. Die Hauptaufgabe ist die
Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Mittel
dazu sind die revolutionäre unabhängige Sozialdemokratie, die Ge-
werkschaften, die revolutionär umzugestalten sind und das revolu-
tionäre Rätesystem, das als Herrschaftsorgamsanon des Prole-
. lariats anstelle des bestehenden kapitalistischen Staates zu Irelen
hat. Mit allen diesen Mitteln muß also das Proletariat sich die
Macht erobern; solange es diktatorisch die Macht ausübt, muß es
wenigstens in den Grundzügcn, die sozialistische Gesellschaft auf-
bauen. Ist das geschehen, dann kann die sozialistische Demokratie
sich entsaften. Das scheint nun recht schön, echt proletarisch und
marxistisch zu sein. Und dock ist diese taktische Theorie grundfalsch,
sie ist die Theorie des Bolschewismus; sie leidet an denselben in-
neren Konstruktionsfehlern wie jener uird wird in der Praxis genau
so zusammenbrechcn, wie jener zusammengebrochen ist; sie ist poli-
tisch und ökonomisch durchaus unreif; sie ist eine Abweichung vom
Geiste der Lassalle, Marx, Liebknecht, Bebel, James, Kautsky usw.
Sehen wir Hoch etwas genauer zu. Wie soll sich denn diese
diktatorische Eroberung. der politischen Macht vollziehen? Doch
*) Vgl. Nr. 76, 1. Iahrg. der „Volkszeitung".
 
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