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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0225
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Lageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Eppings», Eberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxber-
Tauberbischofsheim und Wertheim.


Bezugspreis: Monatlich einschl. Trägerlohn 2.soMk. Anzeigenpreise:
Vie einspaltige Petitzeile (36 mm breit) 4« pfg., Reklame-Anzeigen
sVZ mm breit) 2.-Ml. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Taris.
Geheimmittel-Anzeigen werden nicht ausgenommen.
GrschSstsstunden: 8-'/«6 llhr. Sprechstunden der Redaktion: 17-12 llhr.
postschEmto Karlsruhe Nr. 22SI7. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Mittwoch, 2S. Februar 4S20
Nr. 47 * 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft ».Feuilleton: Dr.
E.Kraus; für Kommunales u. soziale Rundschau: I. Kahn; für Lokale«:
O. Geibel; für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberg
Druck und Verlag der ilnterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H, Heidelberg
Geschästsstelle: Schröderstraße 3S.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redaktton 264«.

Das Hanauerland bleibt gut badisch.

Praktische Weltpolitik.
Von Kurt Heil but.
Nur die wenigsten haben eine klare Vorstellung von dem Ver-
hältnis, bas zwischen England und Deutschland vor dem Krieg
bestand. Für die meisten war und ist der Engländer der neidische
Gesell, der mit scheelen Augen auf den friedlichen, fleißigen, ach so
harmlosen Deutschen sah. Nur die wenigsten wissen, daß sich Eng-
land in den Jahrzehnten vor dem Krieg aus bas eifrigste bemüht
hat, in freundschaftliche Beziehungen, ja sogar in ein Bündnis mit
Deutschland zu treten. Nicht weniger als dreimal hat England
ein Bündnisangebvt gemacht! Das erste Mal allein, das andere
Mal mit Japan, und dann mit Amerika als Drittem. Alle drei
Angebote wurden von Deutschland abgelehnt. Dafür wurde bei
uns der Kriegsschiffbau in einem Umfange betrieben, der sich nur
gegen England richten konnte. Und der Kaiser nannte sich und ließ
sich „Admiral des Atlantic" nennen! Dürfen wir uns daher wun-
dern, wenn England nicht so sehr von der Harmlosigkeit Deutsch-
lands überzeugt war wie wir?
Die Briefe „Willys" an „Niki", den russischen Zaren, geben
ja manch interessanten Einblick in die Gründe, die zu dieser Politik
geführt haben. Genau so wie in dem Heineschen Gedicht „Ein
Jüngling liebt ein Mädchen, das hat einen andern erwählt . . ."
warb England um Deutschland und Deutschland um Rußland!
Zwei unglückliche Lieben. Es ist zum Weinen und Lachen zugleich;
nur ganz flüchtig erkennt man in diesem politischen Liebeswerben,
daß der weltpolitische Gegensatz gar nicht Deutschland-England, auch
nicht Deutschland-Rußland, sondern England-Rußland hieß.
Deutschland hätte dabei nur die Rolle des lachenden Dritten
zu spielen gehabt. Aber selbst für diese Rolle war es zu dumm
und ungeschickt. Das Ende vom Lied war: die beiden anderen fielen
über Deutschland her. Und das Tragischste von allem ist: das
neue Deutschland muß die Suppe ausessen, die ihm die Schuld des
alten Deutschland, der alten Regierung, eingebrockt hat.
Allerdings hatte auch die deutsche Politik diesen englisch-russi-
schen Gegensatz erkannt. Und nicht zuletzt war es die Furcht, in
diesen Konflikt mit hineingezogen zu werden, was die ablehnende
Haltung gegen die englischen Bündnisanträge bestimmte. Man
befürchtete, für England als dessen Bundesgenosse gegen Rußland
kämpfen zu müssen — wie es Japan 1904—05 getan hat. Und
wieder ist es zum Lachen und Weinen zugleich, daß Deutschland
nun doch im Weltkrieg — gegen Rußland gekämpft hat und so
wider Willen für Englands Weltmacht und Wettherrschast die
Masten führte.
England selbst errang mit dem Weltkrieg — obwohl es in den
Wochen vor dem Kriegsausbruch am ehrlichsten von allen Groß-
mächten bemüht war, ihn zu verhüten — einen doppelten Erfolg:
es wurde mit dem besiegten Deutschland einen ihm allmählich doch
unangenehm werdenden Nebenbuhler los, und sah zugleich seinen
eigentlichen Feind und zeitweiligen Bundesgenossen — Rußland —
so zerrüttet und geschwächt, daß es für die nächsten Jahrzehnte von
ihm nichts mehr zu befürchten hatte. Rußland konnte nach den
Verlusten, die es im Weltkriege erlitten hatte, und nach der Zer-
trümmerung Groß-Rußlands (Losreißung der Ukraine und der
Randstaaten) für die nächste Zeit nicht daran denken, feine Pläne
auf Konstantinopel oder in Zentralasien zu verwirklichen.
England stand auf der Höhe seiner Macht. Sv schien es. Da
kam mit der russischen Revolution eine Bewegung hoch, die ihre
Wellen weit über die Grenzen Rußlands hinaus schlug. Diese
Bewegung, die wir gewöhnlich mit Bolschewismus bezeichnen, ist
nun keineswegs das, als was wir sie sehen und so gern sehen möch-
ten: eine Bewegung der industriellen Arbeiterschaft, des Großstadt-
proletariats, sondern in ihrem Kern eine Bauern bewegung.
Diese Bauernbewegung kann und wird naturgemäß wenig
Widerhall in den westlichen Industrieländern finden. Um so mehr
aber unter der Bauernbevölkerung Asiens. Wir hatten in den
letzten Monaten genug mit uns selbst zu tun und konnten uns
wenig um die außereuropäischen Dinge bekümmern. Es dürfte aber
doch notwendig sein, auch diese ferner liegenden Ereignisse nicht
aus den Augen zu verlieren.
Ist doch die bolschewistische Propaganda bereits bis Aegypten
vorgedrungen, wie em „Fetwa" zeigt, in dem die Gläubigen vor
dem Bolschewismus gewarnt und dessen Anhänger mit Strafen
bedroht werden. Pocht der Bolschewismus doch bereits an die
Tore Indiens! (Auch den englisch-afghanischen Krieg muß man
als einen Teil des englischen Kampfes gegen den Bolschewismus
betrachten.)
Diese unerwartete und unvorhergesehene Ausbreitung des
Bolschewismus, gegen die bisher alle von England angewandten
Mittel erfolglos waren, sowie eine große Bewegung, die sich in
der gesamten mohammedanischen Welt ankündigt — man betrachte
die Ausstände in Indien, Aegypten, Persien, Kurdistan, die Kämpfe
in Anatolien — das find die großen Gefahren, die die englische
Weltherrschaft an ihrer Wurzel — nämlich Indien — bedrohen.
Diese Rolle, die der Bolschewismus zu spielen beginnt, kann
und darf uns nicht gleichgültig lassen. Sowjet-Rußland öa^^ür
uns nicht mehr nur das Schreckgespenst sein wie bisher. Der Riß
Zwischen den siegreichen Westmächten und dem besiegten Ost- und
Mitteleuropa wird immer größer. Wir dürfen nicht länger unsere
ganze Zukunft allein auf die Ueberbrückung dieses Risses aufbauen.
Wir dürfen auch nicht unsere Zukunft auf Hirngespinsten ausbauen.
Und die Internationale — wie sie heute besteht — ist ein solches
Hirngespinst. Wir haben ja gesehen, wie sich die Arbeiterschaft
Englands und Frankreichs für ihre russischen Brüder eingesetzt hat-
Es ist bei leeren Protesten geblieben, über die die englischen und
französischen Machthaber kalt lächelnd Hinwegschritten. Zweifelt
einer von uns, daß die Arbeiter Englands und Frankreichs sich
nicht zehnmal eher für Rußland als für Deutschland einsetzen wür-
ben? Daß wir also noch zehnmal weniger von dieser Seite zu er-
warten und erhoffen baden als Rußland? Und daß — wenn die

Erzberger vorläufig seines Dienstes
entbunden.
Berlin, 24. Febr. (W.B.) Nach Bekanntwerden der ge-
stohlenen Steuerakten des Reichsfinanzministers Erzberger in der
Presse hat dieser unverzüglich beim Finanzamt in Charlottenburg
eine Untersuchung gegen sich beantragt und damit seiner-
seits auf jede materielle Erwiderung in der Presse verzichtet, die der
Untersuchung vergreifen könnte.
Gleichzeitig hat er den Reichspräsidenten gebeten, ihn bis zum
Abschluß dieser Untersuchung von der Wahrnehmung seiner Dienst-
geschäfte zu entbinden, damit auch nicht der Schein eines Druckes
auf die Untersuchung des Finanzamtes fallen möge.
Der Herr Reichspräsident hat dem Ersuchen des Reichsfinanz-
ministers nunmehr entsprochen und ungeordnet, die Unter-
suchung mit tunlichster Beschleunigung durchzuführen und ihm sofort
Bericht über das Ergebnis zu erstatten. Mit der Stellvertretung des
Ministers ist der Unterstaalssekretär Mösle beauftragt.
Berlin, 24. Febr. (Priv.-Tel.) Auf Anfrage wird uns
von feiten der Regierung erklärt, daß die durch das Wolffsche Tele-
graphenbüro verbreitete Aeußerung über die angeblichen Steuer-
hinterziehungen Erzbergers eine Privatarbeit des Mini-
st er s sei. Das Kabinett habe keine Veranlassung, sich in diesem
Stadium mit der Frage zu befassen.
Lebensmittelnot in Ludwigshafen.
Ludwigshafen, 25. Febr. (W.T.B.) Gestern Nach-
mittag fand hier eine große Demonstration der
Arbeiter gegen die Lebensmittelknappheit statt. Bei
weiterer schlechter Lebensmittelversorgung will die Arbeiter-
schaft in den Streik treten. Der Mob benützte die
Gelegenheit und plünderte zahlreiche Lebensmittel- und
andere Läden aus. Französische Gendarmerie schritt ein
und nahm zahlreiche Verhaftungen vor. Abends wurde
die Ruhe wieder hergestellt.
Das Kanalprojekt.
München, 25. Februar (W.T.B.). Der Landtag hat
die Kanalvorlage angenommen.
Wieder ein polnischer Übergriff.
Berlin, 25. Febr. (W.T.B.) Nach einer Meldung
des „Berl. Tagbl." aus Meseritz überschritt gestern
polnisches Militär die Reichsgrenze und besetzte das
Dorf Stockt, das durch den Friedensvertrag Deutsch-
land ^»gesprochen wurde. Gegenmaßnahmen wurden sofort
eingelettet.
England und Italien für die Anerkennung
der Sowjet-Regierung.
Paris, 25. Februar (W.T.B.). Nach dem „Jntran-
sigeant" sind England und Italien geneigt, die Sowjet-
regierung anzuerkennen. Frankreich und Japan
seien jedoch Gegner eines solchen Vorgehens.

Arbeitermassen der Entente nichts für Rußland tun wollten oder
konnten — sie für uns nicht den kleinen Finger rühren werden?
Allen noch so wohlgemeinten Freundschaftsbeteuerungen zum Trotz?
Ob wir wollen oder nicht: wir werden mehr und mehr dazu
gedrängt, unsere Blicke nach dem Osten zu richten. Ob wir wollen
oder nicht: wir werden dazu gedrängt, uns politisch wie wirtschaft-
lich mehr auf Rußland zu stützen. Je eher wir das erkennen und
die Wege dazu einschlagen, umso besser für uns.
„Endlich!" — höre ich den Kommunisten triumphieren —,
„haben wir das nicht schon immer gesagt? Wir liefern an Rußland
unsere Industrieerzeugnisse, und Rußland an uns dafür Lebens-
mittel." Aber das ist ja gerade der große Irrtum der Kommunisten,
daß sie glauben, von Rußland heute Lebensmittel erhalten zu kön-
nen. Rußland wird voraussichtlich auf Jahre hinaus nicht imstande
sein, einen Ueberschuß aus seiner Landwirsschaft zu erzielen. Und
auch dann wird es nur möglich werden, wenn wir vorher an Ruß-
land Maschinen, Werkzeug und vor allem landwirtschaftliche Ge-
räte liefern. Dazu ist es aber notwendig, daß wir unsere Industrie-
Erzeugung durch angespannteste Arbeit steigern.
Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, von Rußland etwas
zu erhoffen, was es uns — wenigstens für die nächste Zeit --
nicht zu geben vermag. Es kann sich auch nicht darum handeln,
uns von den Westmächten abzukehren. Sondern wir müssen das
eine tun und das andere nicht lassen.
Ebenso falsch wie der Weg unserer „Kontinentalpolitiker": mit
Frankreich besonders enge Fühlung zu nehmen — das würde nur
das Mißtrauen Englands wachrufen — ebenso falsch, wie eine be-
sondere Annäherung an England wäre — das würde wiederum
Frankreich mißtrauisch machen— ebenso falsch wäre es jetzt, unsere
Politik einzig und allein auf Rußland einzustellen. Wir sollen
und müssen allen Möglichkeiten nachgehen! Dazu gehört aber
auch, daß wir uns die Tür nach Rußland nicht selbst verschließen.
Wir dürfen unsere Hände nicht immer nur nach Westen ausstrecken,
sondern müssen versuchen, sie auch dem Osten zu reichen, ilnd das
bald! Sonst werden wir auch über diesen Abschnitt unserer politi-
schen Geschichte schreiben können: Zu spät!

Politische Ueberficht
Austritt Dr. Zadeks aus der Stadtverordnetenfraktion.
Stadtv. Dr. Zadek, Mitglied der il.S.P.-Fraktion, ist
aus der Berliner Stadtverordnetenversammlung, der er fast
dreißig Jahre lang angehörte, ausgetreten. Er begründet
diesen Schritt mit der folgenden Erklärung:
Meinungsverschiedenheiten zwischen der Fraktionsmehrheit
und mir in verschiedenen Fragen der städtischen Verwaltung hatten
zu einer Aussprache in der Fraktion geführt und mir den Gedanken
nahegelegt, über mein weiteres Verbleiben in der Fraktion die
Wähler selbst entscheiden zu lassen.
Indem ich als alter Parteigenosse und guter Demokrat di«
Konsequenz dieser Abstimmung ziehe und mein Mandat nie-
der! ege, bemerke ich zu der Begründung obiger Entschließung,
daß ich den entscheidenden Satz von der Pflicht eines Funktionärs
der Partei nicht ohne Einschränkung als richtig anerkennen kann.
Zweifellos hat jeder Träger eines Mandats den Willen der
Wähler zu respektieren (und eben weil ich diesen Satz unterschreibe,'
lege ich mein Mandat nieder) und doch muß ich mir im Einzelfall,
bei jeder strittigen Frage, bei jeder Vorlage in der Stadtverordneten-
versammlung das Recht wahren der eigenen Kritik und der
eigenen Entscheidung, unter eigener Verantwor-
tung, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln.
Die Beauftragten der Partei sollen von dem Vertrauen ihrer Par-
teigenossen getragen und ihnen verantwortlich, aber doch selbst-
ständig denkende und selbständig entscheidende
Menschen sein, Charaktere, keine Ja- oder Nein-sage-Maschinen.
Und nun die ErfüllungdesParteiprogramms! Gegen
das Programm verstoßen zu haben, welches zur Zeit meiner ersten
Wahl zum Stadtverordneten (1892) oder meiner letzten Wahl, resp.
meines Eintritts in die U.S.P. Geltung hatte, bestreite ich auf das
Entschiedenste. Nach alledem, was in den Kriegsjahren vorgefallen
war, konnte es für mich nicht zweifelhaft sein, auf welche Seite ich
1918 zu treten hatte, wenn denn doch — auch in der städtischen,
Vertretung — geschieden sein mußte. Das Ergebnis der Neu-
wahlen und die weitere Entwicklung in der Fraktion und in der
Versammlung, das Vorgehen der Partei innerhalb und außerhalb
der Parlamente und nicht zuletzt — der Leipziger Partei-
t a g haben dann freilich gezeigt, daß an die Stelle des alten Pro-
gramms, an die Stelle unserer sozialdemokratischen Prinzipien
mehr und mehr das bolschewistische Vorbild, der Terror und die
Vergewaltigung der demokratischen Grundsätze bei vielen meiner
alten und jungen Parteigenossen getreten war, ohne daß sie sich des
Unterschieds bewußt wurden, daß die Diktatur des Proletariats bei
russischen Zuständen allenfalls geschichtlich zu verstehen, in einem
Lande mit hochentwickelter Industrie und hochentwickelter Kultur
eine Unmöglichkeit sei oder aber notwendigerweise zum politischen
und wirtschaftlichen Zusammenbruch, zurErstarkungderRe-
aktion, zum Verlust der revolutionären Errungenschaften führen
müsse. Dieser für unsere Arbeiterbewegung verhängnisvol-
l en Entwicklung dm ich, soweit ich es vermochte, auch innerhalb
der Fraktion entgegengetreten und für die Einigung der durch den
Krieg gespaltenen, feindlichen Brüder eingetreten — als er drin-
gendsten Forderung des Augenblicks.
Nicht ich bin es, der gegen das (Erfurter) Parteiprogramm
verstoßen hat, sondern die zurzeit in der unabhängigen Sozialdemo-
kratie dominierende Richtung. Und deshalb scheide ich mich von
meinen bisherigen Freunden in der Stadlverordnelenversammlung
in der Hoffnung, die Zeit noch zu erleben, daß auch diese meine
Genossen zu der Erkenntnis gelangen werden, daß sie falsche Mittel
angewandt haben, um unsere hohen Ziele zu erreichen.
Dr. I. Zadek.

Aus der neuen Preußischen Verfassung.
Die „Voss. Zeitung" teilt folgende bemerkenswerte Einzelheiten
mit aus der neuen preußischen Verfassung, die demnächst die preu-
ßische Landesversammlung beschäftigen wird.
Die Legislaturperiode des Landtags soll vier Jahre be-
tragen. Wahlberechtigt sind alle Deutschen über 20 Jahre, die
in Preußen ihren Wohnsitz haben, wählbar alle Wahlberechtigten über
25 Jahre. Die Wahlprüfungen erfolgen durch ein Wahlprüfungsgericht.
Der Landtag muß auf Antrag eines Fünftels seiner Mitglieder Unter-
suchungsausschüsse einsetzen, die öffentlich verhandeln, wenn nicht
mit Zweidrittelmehrheit das Gegenteil beschlossen wird. Während der
Vertagung des Landtages wahrt ein ständiger Ausschuß seine Rechte.
Der Präsident des Landtages beruft den Minister-
präsidenten und auf dessen Vorschlag die übrigen Staatsminister,
die im allgemeinen ihm gleichgestellt sind. Das Staatsministerium er-
nennt die Beamten, erläßt zu den Gesetzen die Ausführungsverordnungen
und übt das Recht der Begnadigung aus. Das Staatsministerium als
solches und jeder einzelne Staatsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung
des Vertrauens des Volkes, das dieses durch den Landtag bekundet. Ein
Mißtrauensantrag muß von mindestens dreißig Abgeordneten unter-
zeichnet sein und darf frühestens am zweiten Tage nach seiner Besprechung
zur Abstimmung gelangen, die namentlich sein muß. Wegen Verletzung
der Verfassung oder der Gesetze kann der Landtag die Minister vor dem
Staatsgerichtshof belangen. Die vom Landtag beschlossenen Gesetze muß
das Staatsministerium verkünden, wenn es den Landtag nicht
auf lös en will. Gesetzesvorlagen, die der Landtag abgelehnt hat,
können in demselben Sitzungsabschnitt nicht wieder vorgebracht werden.
Für den Aufbau der Selbstverwaltung wird ein besonderes
Gesetz in Aussicht gestellt, ebenso wie noch ein besonderes Wahlgesetz
und Wahlprüfungsgesetz angekündigt werden.
Ein weiterer Abschnitt behandelt die Rechte der Staatsbeamten. In
den Uebergangs- und Schlußbestimmungen werden die Befugnisse des
früheren Königs erneut dem Staatsministerium übertragen. Als Trager
des landesherrlichen K i rch en r egim ent s soll es, bis eine besondere
Gesetzgebung diese Frage erledigt, durch drei Mitglieder des Mimstenums
evangelischen Bekenntnisses vertreten werden.
Wir vermissen in diesem Verfassungsentwurf die Rechte der
Volksinitiative und des Volksreferendums. Wir
erwarten, daß diese demokratischen llrrechte vom preußischen Land-
tag in die Verfassung ausgenommen werden. Gerade hier zeigt es
 
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