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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0137
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Tageszeitung für die werktötige Beoötterung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Ginsheim, Eppingen, Sberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxber-,
Tauberbischofsheim und Wertheim.


Bezugspreis: Monatlich einschl. Trägerlohn 2.soMk. Anzeigenpreise:
DI« einspaltige petttzeile (38 mm breit) 40 Pfg., Reklame-Anzeigen
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GeschSftSstunden: 8 — '/,8 ilhr. Sprechstunden der Redaktion: 11 —12 llhr.
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Heidelberg, Mittwoch, 4. Februar 4920
Ar. 29 » 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft ».Feuilleton: Lr.
LKrauSr für Kommunales u. soziale Rundschau: Z.Kahn, für Lokales:
O. Geibel) für die Anzeigen: H. Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der llnterbadischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: SchrSberstraße 3S.
Fernsprecher: Anzeigenannahme 2873, Redattion 2848.

Ententedrohung gegen Holland.

Politische Übersicht.
Ententedrohung gegen Holland.
Paris, 3. Febr. (Havas.) Die Antwort auf die Weigerung
Hollands bezüglich der Auslieferung des Kaisers wurde unter den
Vertretern der Entente besprochen und wird ohne jede Verzögerung
dem holländischen Minister überreicht werden. Sollte die Haager
Regierung auf ihrer Weigerung bestehen bleiben, so wäre der Ab-
bruch der diplomatischen Beziehungen mit derselben sowie eine
Seeblockade gegen Holland unumgänglich. Wie aus der Schweiz
gemeldet wird, hat die holländische Regierung eine Einladung zu
einer Besprechung im Haag an alle Neutralen ergehen lassen. Die
Schweiz wird Vertreter entsenden.
Hk
Hk
Bevor nähere Nachrichten eingehen, können wir kaum glauben,
daß die Entente wirklich mit Gewalt von Holland die Auslieferung
des Exkaisers fordern sollte. Das wäre nicht nur ein Gewaltakt,
für den bisher völkerrechtliche Unterlagen in keiner Weife existieren;
das wäre vor allem eine im eigenen Interesse der Entente höchst
unkluge Taktik, die unseres Erachtens sicher viele Kreise, besonders
in England und Amerika einfach nicht mitmachen würden. Denn
klarer könnte die allem Recht hohnsprechende Machtgier und Rach-
sucht der Ententeregierungen nicht dokumentiert werden, als durch
einen solchen Schritt. Zugleich aber würden sie damit alle neutralen
Staaten von sich ab und auf die Seite der besiegten Mächte stoßen,
und das kann wohl kaum ihre Absicht sein. Es ist also abzuwarten,
was die nächsten Tage bringen werden.
(Vgl. die heutige Wolfs-Meldung!)
Es dämmert.
Reichskonferenz der Unabhängigen.
Am Mittwoch fand in Berlin eine Reichskonferenz
der Unabhängigen statt, bei der Crifpien die innerpolitische
Lage schildert. Die Berliner Vorfälle am 13. Januar vor dem
Reichstag boten der Regierung den Vorwand, den Ausnahme-
zustand zu verhängen und ihn nicht nur zur Niederhaltung der
Streikbewegung, sondern auch zu einer maßlosen Hetze gegen die
Partei zu benutzen. Erispien wies demgegenüber mit allem Nach-
druck darauf hin, daß die Partei jede putschistische Taktik nach wie
vor unbedingt verwerfe. In Berlin war ausdrücklich festgelegt,
daß die Demonstranten durch Ordner und Vertrauensmänner recht-
zeitig zum Abmarsch und zur Auflösung der Demonstration aufge-
fordert werden sollten. Eine unglückliche Verkettung von unvorher-
gesehenen Zufällen verhinderte das rechtzeitige Eingreifen der Ord-
ner. So kam es zu bedauerlichen Zwischenfällen, die von ein -
z einen Personen hervor gerufen waren, auf^der
Rampe des Portals 1 des Reichstages. Das rechtfertigt aber in
keiner Weise, daß an anderer Stelle, bei Portal 2 des Reichstages,
auf die Menge, die durch die ganze Strahenbreite vom Reichs-
tagsgebäude getrennt war, Maschinengewehrfeuer abgegeben wurde.
Die Partei müsse eine Taktik verfolgen, die mit den wirklichen
Machtverhältnissen rechne und nicht phantastische Hoffnungen auf
einen über Nacht erfolgenden Zusammenbruch nähre. Die poli-
tische Partei müsse die Führung und Entscheidung über alle ihre
Aktionen haben. Insbesondere sei es jetzt Aufgabe der Organisa-
tionen, die Wahlen zu den Betriebsräten mit allem Nachdruck zu
betreiben und geeignete Vertrauensmänner in die Betriebsräte zu
wählen. Konsequent müßte man auch von allen Vertretern in par-
lamentarischen Körperschaften verlangen, eine klare Taktik nach
festen sozialistischen Richtlinien zu befolgen und sich von aNtiparla-
mentarijchen Stimmungen frei zu halten, lleberwunden werden
müsse auch die Neigung, die sich hier und da bemerkbar mache,
kommunistischen Gruppen in ihrer Taktik Gefolgschaft zu leisten.
Die Ausführungen Crispiens fanden in der Reichskonferenz
fast allgemeine Zustimmung.
Die Konferenz erhob einmütig scharfen Protest gegen die will-
kürliche Verhaftung des Vorsitzenden der Partei, Genossen Däu-
Mig, sowie zahlreicher anderer Genossen.
Prozeß Erzberger-Helfferich.
Berlin, 3. Febr. Zu Beginn der Sitzung des Erzber -
4er-Helfferich-Prvzesses verlas der Vorsitzende ein
Telegramm des zuständigen Gerichtsarztes. Herr Thyssen
ist so leidend, daß er die Reise nach Berlin nicht unternehmen kann.
Ferner wird der Fall Dombrowski erwähnt. Erzberger soll
bekundet haben, daß er einem von Dombrowski verfaßten Artikel
völlig fernsteht. Es wird beschlossen, zu diesem Punkt Dr. Drie-
sen und Geheimrat Hämmer, den Begleiter Erzbergers wäh-
rend der Verhandlungen in Moabit, als Zeugen zu vernehmen.
Bezüglich eines Falles Angerle teilt Rechtsanwalt Alsberg
Wit, daß Angerle Agent der Reichsgerstenstelle gewesen sei und
von dort entlassen worden fei. Er fei dann aber von Erzberger
bei Reichsgerstenstelle wieder aufgedrängt worden und zum Dank
dafür habe Herr Angerle Herrn Erzberger bauend mit S_ch leich»
waren versorgt.
Hierauf wird der Fall der Sächsischen Serumwerke
angeschnitten. Dr. Helfferich bemerkt dazu, Erzberger habe in der
Zeit der schlimmsten Zuckernot den Sächsischen Serumwerken
Lucker zuweisen lassen zur Herstellung eines Keuchhusten-
Wittels. Dabei hat er aber verschwiegen, daß er finanziell bei
der Sache beteiligt ist. Geheimrat v. Gor don giht zu diesem
Fall folgende Erklärung ab: Herr Erzberger ist an den Serum-
Werken nicht mit einem Pfennig beteiligt. Ein Erfinder hatte sich
vn Herrn Erzberger gewandt und ihm mitgeteilt, daß er ein Keuch-
hustenmittel entdeck^ hatte. Erzberger wandte sich an mehrere Zen-
Erumsmitglieder, um sie sür die Sache zu interessieren, da er eine
derartige Entdeckung für außerordentlich segensreich hielt und man
beschloß, die gute Sache zu fördern. Jeder der gewonnenen Herren
Zeichnete einen Betrag, insgesamt kamen etwa 40 000 Mk. zusam-
men, die dem Erfinder überwiesen wurden. Iustizrat v. Gordon
betont, daß Erzberger niemals einen Pfennig Gewinn erhalten hat.

Die Liste der Schuldigen.
Paris, 3. Febr. (W.T.B.5 Die Botschasterkdnferenz ge-
nehmigte heute den Text der Note, die am Nachmittag Herrn von
Lersner mit der Liste der Auszuliefernden übergeben werden soll.
Die Konferenz beschäftigte sich sodann mit dem Entwurf einer neuen
Note an Holland über die Auslieferung des Exkaisers. Zur Eini-
gung ist es aber noch nicht gekommen. Nach dem „Journal des
Debats" ist aber vorerst noch nicht mit Zwangsmaßnahmen zu
rechnen, die bis zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit
Holland und der Seeblockade gehen.
Paris, 4. Febr. (W.T.B.) Das Sekretariat der Friedens-
konferenz ließ Freiherrn von Lersner die Liste der Schuldigen zu-
gehen.
Antwort der Schweiz an Holland.
Bern, 2. Febr. Der schweizerische Bundesrat hat beschlos-
sen, der von Holland ausgehenden Einladung zu einer Besprechung
der Neutralen über den im Friedensvertrag vorgesehenen inter-
nationalen Gerichtshof Folge zu leisten. Als Delegierte für diese
Konferenz, die in diesen Tagen im H a a g ftattfinden wird, wurden
der schweizerische Gesandte im Haag Minister Carlin und Prof.
Eugen Huber (Bern) bezeichnet. Wie verlautet, wird die Schweiz
in bezug auf den Sitz dieses Gerichtshofes keine Ansprüche erheben.
Erzberger wieder arbeitsfähig.
Berlin, 3. Febr. Wie die „B. Z." erfährt, beabsichtigt
Erzberger, bereits übermorgen an der Sitzung des Steuerausschusseek
der Nationalversammlung teilzunehmen. Wie das Blatt weiter
meldet, hat Reichspräsident Ebert heute mittag Erzbcrger besucht.
Abschluß der Tarifverhandlungen im
. Ruhrgebiet.
Essen, 3. Febr. Unter Mitwirkung des nach Essen ent-
sandten besonderen Komissars der Reichsregierung Severing aus
Münster wurden gestern nacht die Tarifverhandlungen im rheinisch-
westfälischen Bergbau zu einem glücklichen Abschluß gebracht» Die
Bergleute erhalten u. a. eine wesentliche Erhöhung der Löhne, Kin-
derzulagen und längeren Urlaub. Durch diese Besserstellung wird
der Bergmann im besonderen Maße befähigt, auch unter den schwie-
rigen Ernährungsverhältnissen seinen mühseligen Beruf auszuüben.
— Durch den Abschluß der Tarifverhandlungen wird die dem
heimischen Ruhrbergbau dringend notwendige uno ruhige Weiter-
entwicklung gewährleistet. Bei Abschluß der Verhandlungen er-
klärte sich der Zechenverband bereit, freiwillig rund 12 Millionen
Mark zur Verfügung zu stellen, die nach näherer Vereinbarung
mit den Gewerkschaften eine besondere Verwendung zur Erhöhung
der Kinderzulagen für einen bestimmten Zeitraum finden sollen.

Das Reichskabinett zum Einheitsstaat.
Berlin, 2. Febr. (W.B.) In einer gemeinsamen Sitzung
des Reichs- und des preußischen Kabinetts wurde über den in der
preußischen Landesversammlung eingebrachten Antrag wegen Her-
beiführung des Einheitsstaates beraten. — Es herrschte Einigkeit
darüber, daß die Reichsverfassung eine ausreichende Grundlage
dafür gewähre, die einheitlichen Grundlagen des Reiches zu er-
halten und auszubauen. Die Besorgnis, namentlich bei den süd-
deutschen Staaten, als ob das Reich beahfichtige, gegen ihren Wil-
len ihre politischen Rechte zu schmälern, wurde aber allerseits a l s
unbegründet erkläre Es wurde auch anerkannt, daß bei
der notwendigen Dezentralisation, die in einem Reiche von der
Größe Deutschlands, ungeachtet feiner staatsrechtlichen Konstruk-
tion, immer erforderlich sein werde und die nach mancher Richtung
vielleicht sogar eine Erweiterung ertragen könne, keine Veranlassung
vorliege, die Gebilde der süddeutschen Staaten umzuformen. —
Andereseits wurden die Schwierigkeiten, den preußischen Staat in
ein dezentralisiertes Reich einzugliedern, nicht verkannt. Aber auch
hier versprach man sich Abhilfe nicht in dem u n h i st o r is ch e n
Gedanken einer Zerschlagung Preußens, sondern
ging davon aus, daß die Entwicklung organisch zu gehen habe, wie
denn die Bedeutung des Reiches mit seinen vergrößerten Zustän-
digkeiten gewachsen ist und weiter wachsen wird. Darüber, daß
auf dem Wege der Dezentralisation Preußens weite- gegangen sein
muß, war man sich einig. Man verkannte weiter nicht, daß sich
aus der gemeinsamen Verantwortung, die das Reich und Preußen
für manche großen' politischen Aufgaben tragen, Schwierigkeiten er-
geben könnten, wie das auch unter der alten Reichsverfassung im-
mer wieder der Fall war. Es soll deshalb geprüft werden, wie
man dieser Schwierigkeiten durch eine engere Fühlungsnahme Herr
werden kann. Zur weiteren Klärung dieser Fragen wurde ein
Unterausschuß aus drei Reichsministern und drei preußischen Mi-
nistern gebildet.
Die Wahlen in Hessen.
Das Resultat der Kreistagswahlen.
Das Gesamtresultat der Kreistagswahlen für den Kreis
Darmstadt steht bis auf drei Gemeinden, die am allgemeinen
Stimmenverhältnis nichts Wesentliches ändern dürften, fest. Die
Stimmen verteilen sich wie folgt:
Mehrheitssozialdemokratie 117S9
Hessische Vvlkspartei und Bauernbund 3745
Deutsche Vvlkspartei 9577
Zentrum 1876
Demokraten 4797
Handwerkervereinigung 1287
Auf die sog. Regierungsparteien entfallen somit
18 '72 Stimmen, während die Freunde des „ancien regime" 14 609
Stimmen erhielten.

Kritische Randbemerkungen zur
Stresenrannversammlung.
Von Dr. EmilKraus.
Heidelberg, den 4. Febr.
Leider war es mir infolge der knappen Diskussionszeit von
kaum 15 Minuten nicht möglich, Herrn Dr. Stresemann und seinen
andächtigen Zuhörern zu sagen, was meines Erachtens allein der
Sachlichkeit halber — und auf diese Sachlichkeit legte doch der
Redner selbst, sodann Herr Prof. Eurtius und die „Badische Post"
so großen Wert — gesagt werden mußte. Ich hole es deshalb an
dieser Stelle nach und hoffe, daß meine Kritik auch den Weg zu
Herrn Dr. Stresemann finden wird.
lieber den vollbesetzten Saal war ich nicht verwundert; das
war beim Namen Stresemann und bei der sozialen Struktur Hei-
delbergs vorauszusehen. Erstaunt aber war ich feststellen zu müssen,
welchen gewaltigen Ruck nach rechts unser Bürgertum jetzt schon
wieder vollzogen hat. Ich habe zwar von der politischen Reife der
Beamten- und Mittelstandsbvurgeoisie nie viel gehalten, aber ein
bischen mehr geistige Reife und Selbständigkeit habe ich doch vor-
ausgesetzt. Da hat mich aber der Samstag abend wieder gründlich
eines andern belehrt. Da muß ich nun sagen: Herr Dr. Stresemann
kennt seine Pappenheimer, er weiß was er seinen ruhe- und ord-
nungliebenden Bürgern sagen muß, um sie um seine Fahne zu scha-
ren. Und das ist das faszinierende der unglaublichen Demagogie
dieses „Nur-Politikers" — von irgend einer gründlichen Kenntnis
und sachlichen Objektivität auf historischem, soziologischen oder öko-
nomischen Gebiet habe ich nichts bemerkt —: er hetzt nicht mit lau-
ter aufdringlicher Phraseologie, sondern mit einem stillen, schleichen-
den, kaum merklichen Gift der ganzen Art der Gedankengruppie-
rung, der durchaus einseitigen Heraushebung von Tatsachen und
Beispielen. Wenn in der bürgerlichen Presse (des. „Bad. Post")
der umfassende Inhalt und die klare Logik des Aufbaus an der
Strefemannfchen Rede gelobt wird, so muß ich demgegenüber sagen:
einmal hätte ich mir an Inhalt mehr versprochen; es war eine Agi-
tationsrede für die auf Klassengewalt aufgebaute Beamtenmonar-
chie, die ebensogut vor dem Kriege gehalten werden konnte. Vor
allem aber war die Rede von großen inneren Widersprüchen, Ge-
gensätzen und Unklarheiten durchzogen. Dafür einige wenige
Belege.
Stresemann ging von der wirtschaftlichen Lage Deutschlands
aus. Immer wieder betonte er, daß trotz des furchtbaren Weltkrie-
ges kein wirtschaftlicher Boykott gegen uns bestehe, daß die
ganze Welt, nach unseren Produkten hungere, daß die deutsche In-
dustrie mit ausländischen Aufträgen überhäuft sei, daß die deutsche
Arbeit in der ganzen Welt ihr altes Ansehen genieße — dabei ver-
gaß dieser Demagoge zu sagen (und die Bürger merkten es natür-
sich nicht), daß das ein gewaltiges Lob für den Fleiß des deutschen
Arbeiters ist, über den aber Stresemann sonst nichts gutes zu sagen
wußte — daß wir direkt einer wirtschaftlichen Hvchkunjunktur ent-
gegengingen, wenn nur die Valuta- und Kreditfragen gelöst wären.
Ganz richtig! Das heißt aber, wenn man es ökonomisch und politisch
zu Ende denkt: wenn nur der Zusammenbruch, ja wenn nur der
ganze Krieg nicht gewesen wäre! Ja allerdings, da liegt der Hase
im Pfeffer! Herr Stresemann aber weiß seinen Hörern einen an-
deren Grund; er führt den „Manchester Guardian" an, wonach im
Ausland kein Vertrauen zu unserer Wirtschaft — übrigens an sich
wieder ein Widerspruch zu dem obigen — herrsche, weil die deutsche
Regierung sozialistisch orientiert sei, weil sie keine Ehrfurcht vor dem
Privatkapital habe. Das war natürlich ein gefundenes Fressen für
die lauschende Versammlung, die in tosenden Beifallssturm aus-
brach. Herr Stresemann, das war ganz üble Demagogie, die einem
Führer des Volkes recht schlecht ansteht. Denn einmal ist es mit der
sozialistischen Orientierung der gegenwärtigen Regierung gar nicht
so weit her; — rigorose Steuergesetze haben alle Staaten nach die-
sem Krieg nötig, wir doppelt infolge des Friedensvertrages, den wir
doch gerade jenen Kapitalistenkreisen der Entente zu verdanken ha-
ben, die Herr Stresemann in so rosigen Farben schilderte —; und
dann gibt es doch noch eine soziale Frage, Interessen der produzie-
renden Arbeiterschaft und nicht nur freie Bahn den Profitmöglich-
keiten des Kapitals, doch davon nachher.
Ja, wenn der Krieg nicht gewesen wäre! Ja, wo liegen denn
seine Ursachen? Gerade auf diesem entscheidenden Gebiete arbeitete
Stresemann mit unerhörter Oberflächlichkeit und es ist sür eine Ver-
sammlung, die aus einem gut Teil Hochschulprofessoren besteht, ein
beschämendes Zeugnis, daß niemand diese Oberflächlichkeit an den
Pranger gestellt hat. Herr Stresemann hielt es für nötig, Kautsky
und den Sozialdemokraten zu sagen, daß doch nach der materialisti-
schen Geschichtsauffassung ökonomische Zusammenhänge zu diesem
Weltkrieg geführt haben müssen, daß es deshalb ein Widerspruch
sei nach den Schuldigen zu suchen, wie es die Sozialdemokratie und
Kautsky in seinem Buche „W i e d e r W e l t k r i e g e n t st a n d"
tue. Wieder mächtiger Beifall der Versammlung. Langsam, so
einfach, wie sich manches beschränkte Bürgerhirn die Sache den«,
ist sie denn nun doch nicht. Man muß scharf unterscheiden zwischen
der Frage nach den ökonomischen Ursachen und nach der politischen
Schuld. Die ökonomischen Ursachen dieses Weltkrieges, d. h. die
Grundlagen dafür, daß er überhaupt möglich, ja sogar seit einigen
Jahrzehnten sehr wahrscheinlich war, liegen im modernen Finanz-
kapitalismus, ber sich in allen Großstaate« zum Imperialismus ver-
dichtet hatte. Damit waren dauernde politische Spannungszustände
geschaffen, die leicht ihre Entladung in einem europäischen, ja Welt-
krieg finden konnten. Hier setzt aber nun die politische Schuldfrage
ein: warum kam nun der Krieg in dieser bestimmten politischen Form
(Entente einerseits — Mittelmächte andererseits), in dieser bestimm-
ten politischen Konstellation, die zur Isolierug Deutschlands und
zum schließlichen Zusammenbruch führte? Wer die deutsche Ge-
schichte der letzten 30 Jahre kennt, wer die deutschen und österreichi-
schen Dokumente und die Kaiserbriefe an den Zaren studiert hat,
weiß die Antwort: das größenwahnsinnige Gvtteskönigtmn der
Hohenzollern, das mit den liberal-demokratischen Tendenzen des
 
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