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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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Aageszeitung für die

werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Sinsheim, Sppingen, Eberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg
Tauberbischofsheim und Wertheim.

VezutzsvreiS : Monatlich einschl. Trägerlohn 2.so Mt. Anzeigenpreise:
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Trschäftsstunden: S - '/,6 llhr. Sprechstunden der Redaktion: 14 -12 Uhr.
Postscheckkonto Karleruhe Nr.22577. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Gamstag, 2S. Februar 1920
7lr. SO * 2. Jahrgang

Derantwortl.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft u.Ieuilleton: Dr.
E. Krausi fllr Kommunales u. soziale Rundschau: I. Kahn,-für Lokale«:
O.Geibel, für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberg
Druck und Verlag der llnterbabischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberg
Geschäftsstelle: Gchröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigenannahme 2673, Redaktion 264«.

Rückblick.
Xr. Heidelberg, 28. Februar.
Das wichtigste außenpolitische Ereignis der letzten 14 Tage ist
der UmschMuim der Entente in der Ausliefernngsfrage. Nicht nur
verzichtet die Entente auf die Auslieferung der 900 „Schuldigen",
sondern auch auf direkte Beteiligung an dem deutschen Gerichts-
prvzetz in Leipzig; sie begnügt sich, uns die Namen der zu Ver-
urteilenden mit Anklagematerial vorzulegen. Welches sind die
Ursachen für diesen Umschwung? Die Alldeutschen und Hurra-
patrioten bilden sich ja in ihrer wirklich kindischen Naivität ein, daß
ihre Hetzkampagne und Hetzgesänge auf die Machtpolitiker der En-
tente Eindruck gemacht hätten, daß sie die Ehre des Volkes wieder
einmal gereitet haben. Im Gegenteil! Wenn die Politik der En-
tente nicht seit Jahrhunderten eine demokratische Kulturtradition
besäße, um die sie der unpolitische deutsche Michel beneiden muß,
dann hätte sie auf die unerhörte Disziplinlosigkeit v. Lersners und
das reaktionäre Revanchegeschrei mit ganz anderen Maßnahmen
geantwortet. In erster Linie verdanken wir den Umschwung der
festen Haltung der deutschen Regierung, die unterstützt von den ver-
antwortlichen Mehrheitsparteien auf die internationale Ungerechtig-
keit und die tatsächliche Unmöglichkeit der Auslieferung hinwies.
Die Entente wußte ganz genau, daß aus einen: Zusammenbruch
der gegenwärtigen Regierung in Deutschland lediglich die Reaktion
Nutzen ziehen würde; und an einer Wiederkehr des alten deutschen
Systems, das eine fortgesetzte Bedrohung Europas darstellte, hat
die Entente nicht das geringste Interesse.
Dazu kommen aber noch innerpolitische Gründe im Lager der
Entente selbst. Immer zahlreicher mehren sich die Stimmen, die
eine Revision des Versailler Friedensvertrages verlangen, die zu
der Erkenntnis kommen, däß man Deutschland eine gewiße Bewe-
gungsfreiheit der Aufwärtsentwicklung zugestehen muß, wenn man
überhaupt noch auf eine Entschädigung und Wiedergutmachung
hoffen will. Gewisse elementare Grundgesetzlichkeiten des politischen
und wirtschaftlichen Lebens siegen über den enghorizontigen Macht-
standpunkt, aus dem heraus die Friedensverträge von Versailles
und St. Germain gemacht worden sind. Es ist kein Zufall, daß
den Drahtmeldungen zufolge der Umschwung vor allem England
lu verdanken ist. Diese Nachrichten haben einen tieferen politischen
und sozialen Hintergrund. Während in Frankreich momentan
der Nationalismus und das sieghafte Machtbewußtsein alle anderen
politischen Regungen systematisch abweist, — was nur zu verständ-
lich ist angesichts der finanziell und wirtschaftlich trostlosen Lage,
in welcher der Weltkrieg Frankreich zurückgelassen hat, — kommt
in England allmählich wieder das liberal-pazifistische Element
des freihändlerischcn Weltkapitalismus zum Durchbruch. England
steht, nicht nur im Verhältnis zu den europäischen Großstaaten nach
diesem Krieg ungeschwächt da, sondern seine Weltmacht hat, vor
allem im Orient, eine ungeahnte Stärkung erfahren. Es liegt ihm
deshalb nichts daran, weiter in einem verschärften Gegensatz zu
Deutschland zu stehen, was auch seinen ganzen liberal-kapitalistischen
Traditionen widerspricht.
Dazu kommt, daß die reaktionäre Regierungskoalition Lloyd
Georges, die ein Produkt des Krieges und vor allem der alldeutschen
st-Bootpvlitik war, innerpolittsch erschüttert ist. Das Schwergewicht
verschiebt sich immer mehr auf die Arbeiterpartei und die radikalen
Liberalen. Fast alle Nachwahlen haben eine Niederlage der Koa-
lition ergeben. Wenn es auch zu bedauern ist, daß bei dem letzten
Wahlkampf in Paisley nicht der einfache Arbeiter und Sozialist
Biggar, sondern der Liberale Asquith gesiegt hat, so ist es doch für
die innerenglische Politik symptomatisch, daß überhaupt nur radikal-
liberale oder sozialistische Kandidaten in Frage kommen und daß
auch Asquith eine Revision des Friedensvertrages auf sein Pro-
gramm geschrieben hatte. Das größte Intereste hat für uns das
Programm, mit dem Biggar seinem bürgerlichen Gegner im Wahl-
kampf gegenübergestanden hat. Es lautet:
Ich bin der Kandidat der Genossenschaften und der Ar-
beiterbewegung. Mein Programm ist, ein genossenschaftliches
Gemeinwesen zu begründen. In der praktischen Politik werde ich fol-
gende Forderungen unterstützen:
1. Sozialisierung der Bergwerke; 2. Sozialisierung
des Grund und Bodens und seiner Schätze. Solange dieses
Ziel nicht erreicht ist, werde ich eintreten für die Besteuerung der
Bodenwerte, um die Macht der Grundherren zu schwächen und sie
gleichzeitig zu zwingen, einen gerechten Teil zu den Lokal- und Reichs-
steuern beizutragen; 3. Sozialisierung der Verkehrsmittel;
4. Selbstbestimmungsrecht für Irland und Schott-
land; 5. Vollständige Abschaffung der allgemeinen
Wehrpflicht; 6. Vermögensabgabe als einziges Mittel
der gegenwärtigen Finanzmisere abzuhelfen; 7. Sofortige Inangriff-
nahme der Behausungsreform; 8. Erwerbslofenunterstützung; 9. Er-
Höhung der Alterspensionen; Mindestpensivn ein Pfund Sterling die
Woche; 10. Aeußere Politik: Diegeheime Diplomatie
muß sofort aufhören; geheime Abmachungen, wie zum Beispiel
der Londoner Vertrag (5. September 1914), dürfen nicht existieren,
da sie den Weltfrieden gefährden; 11. Die gegenwärtige Liga der Na-
tionen muß in einen Bund der Völker verwandelt werden; 12 Ruß -
land: Ich verlange die vollständige Zurückziehung aller
Truppen aus Rußland, ebenso die Einstellung aller Kriegslreferun-
gen di« nur darauf berechnet sind, den Bürgerkrieg in Rußland zu
fördern. Ls muß Rußland gestattet werden, sich in llebereinstimmung
mit den Wünschen des russischen Volkes zu regieren; 13. Der Ver-
sailler Friede: Die gegenwärtige Unrast Europas ist hauptsächlich den
undemokratischen Bedingungen zuzuschreiben, unter denen der Vertrag
geschlossen wurde. Alle Staaten sind Teile der Völkergemeinschaft, die
der genossenschaftlichen Grundlage bedarf, um sich erhalten und ent-
wickeln zu können. Solange diese Wahrheit nicht anerkannt und ver-
wirklicht wird, kann es keine Sicherheit in Europa geben. Ich trete
deshalb für internationale Zusammenarbeit ein, so daß der Stärkere
dem Schwachen beistehen kann, die Welt wieder aufzubautzp.
Welches herrliche Beispiel ist dieses Programm für die wirk-
liche Internationalität der sozialdemokratischen Grundsätze trotz alles
bürgerlichen Geschreis!
In Frankreich zieht zurzeit der Laillaux-Prozeß die Augen
der ganzen politischen Welt auf sich. Die Anklage lautet auf Staats-
verrat, Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates. Caillaux soll
der Führer einer Verständigungspolitik mit Deutschland gewesen
'ein. Man muh schon sagen, daß Caillaux nach 2 Jahren Unter-
suchungshaft sich keinen günstigeren Augenblick für seinen Prozeß
hätte wünschen können als den gegenwärtigen. Während dieser
Prozeß siä- in Paris abspielt, wandelt der wilde Tiger Clemen -

Vom Ausschuß für auswärtige
Angelegenheiten d. Nationalversammlung.
Berlin, 28. Febr. (W.B.) Der Ausschuß der Na-
tionalversammlung für auswärtige Angelegenheiten trat
heute zusammen. Am Schluß der Beratung stellte Vorsitzender
Scheidemann fest, daß sich alle Mitglieder des Ausschustes bis
auf 2 mit allen Akttonen der Negierung in der Auslieferungsfrage
einverstanden erklärten.
Der Schweizer Kongreß für Kinderhilfe.
Genf, 28. Febr. (W.B.) Der Kongreß für Kinderhilfswerk
befaßte sich am Freitag mit den Kommissionsanträgen. Die Kom-
mission fürDeutschland schätzt die Zahl der hungern-
de n K i n d e r a u f 1 M i l l i o n, mit einer monatlichen Ausgabe
von 14 Mil l. SchweizerFranken, inOe st erreich sind
ungefähr 300 000 K i n d e r zu unterstützen, mit einer monat-
lichen Ausgabe von 9000 Pfd. Sterling, die Kommission für
Frankreich stellt die Zahl der unterstützungsbedürftigten Kindern
in den verwüsteten Gegenden auf 40V OVO in Ungarn sind 1 Mill.
Kinder zu unterstützen, davon allein in Budapest 100 000, die
Zahl der unterstützungsbedürftigen Kinder beläuft sich auf 400 000,
davon sind 120 OVO in den befreiten Gebieten, der Rest in Süd-
italien.
Amerika will keine Mandate annehmen.
Washington, 28. Febr. (W.B.) Der Senat nahm fast
einstimmig einen republikanischen Vorbehalt zum Frie-
densvertrag an, wonach Amerika der Mandatsverpflich-
tung enthoben werden soll.
ceau im Schatten der Pyramiden Aegyptens. Dem Schreiber
dieser Zeilen hat einmal vor vielen Monaten, als Llemenceaus
Herrschaft als für ewige Zeiten gegründet dastand, ein vielgereister
welterfahrener Marinekapitän gesagt: Caillaux und Briand sind die
kommenden Männer Frankreichs. Sollten -lese Worte nicht bald
zur Wirklichkeit werden können, wenn man bedenkt, daß der
Laillauxprozeß jetzt nach Clemencea-.ks Sturz stattfindet unter einem
Präsidenten — Deschanel —, der" nicht zuletzt durch Briand zur
Macht gelangt ist! Dazu kommt, -'»aß ein gut Teil des politischen
Frankreich sich heute zu Caillaux ganz anders stellt als vor zwei
Jahren zur Zeit seiner Anklage. Man sieht heute nur zu sehr ein,
wie schwer Frankreich im Verhältnis zu England in diesem Krieg
gelitten hat und daß man früher oder später um eine Verständigung
mit Deutschland nicht herumkommen kann. Vielleicht kommt noch
die Zeit, wo das, was heute als Anklage gegen Caillaux versiegt,
ihm noch einmal zur Ehre angerechnet wird!
Eine Analogie zum Caillaux-Prozeß bildet der Erzberger-
Prozeß in Deutchland. Auch Caillaux war einmal französischer
Finanzminister, dem die Kapitalistenklaste Todfeindschaft geschworen
hatte, weil er eine Reform der Einkommens- und Vermögenssteuer
durchsetzen wollte. Denselben Gründen verdankt die Erzberger-
hetze, die ja bereits im Hirschfeldattentat ihre verbrecherischste
Blüte getrieben hat, ihre Entstehung. Solange Erzberger in das
Horn der Patrioten tutete, solange er Annexionist war, der im In-
tereste der Schwerindustrie den Erwerb von Briey und Longwy
forderte, war er für die alldeutschen Hurrapatrioten der große
Mann. Seit er aber, in der Erkenntnis der Dinge, die da kommen
werden, sich hinter die Friedensresolutton des Reichstags stellte,
seitdem er gar als Finanzminister der demokratischen Republik in
der Erkenntnis sozialer Notwendigkeiten den Reichen den Kampf
angesagt hat — seitdem gilt er der Rechten und allen Besitzenden,
die noch nichts aus dem Kriege gelernt haben, als der „Reichsver-
derber", auf besten Kopf man in schamlosester Weise Prämien aus-
setzt. Bezeichnend für das ganze Kulturniveau der sog. „besseren
Schichten" ist es, daß sogar llniversitätsprofestoren in Briefen den
gemeinen Mordanschlag Hirfchfelds als „nationale Tat"
preisen.
Erzbergers Schicksal fit die Folge seiner Wandlungen, die er
während des Krieges durchgemacht hat. Wir schließen uns in
unserem Gesamturteil dem an, was die Mannheimer „Vvlks-
st i m m e" vor einigen Tagen geschrieben hat:
Er hat gefehlt in vielem, er hat aber auch Mut gehabt in
manchem; er hat häufig genug feine lleberzeugungen gewechselt,
aber meistens zum Besseren; er hat zuweilen, wo das Gros der bürger-
lichen Politiker aus Angst vor oben ihr „Ja" mit dem Schweif wedelte,
die Kourage gehabt, sein entschiedenes „Nein" zu sprechen, auf ihm
zu beharren und es in schwierigem Kampfe durchzusetzen; und er hat
— last not least — als einer der wenigen bürgerlichen Politiker, es
gewagt, die große Maste der guten Bürger und Prozentpatrivten an
ihrer empfindlichsten Stelle zu packen: an ihrem Porte-
monnaie. Daher ist ja auch ihre, der Deutschnationalen und Deutsch-
ooltsparteiler, der Kapitalisten und Imperialisten, Feindschaft und Haß
gegen ihn. Hätte Herr Erzberger das Portemonnaie der Besitzenden
.acht angetastet, er hätte noch lange Jahre als Minister blühe»
und gedeihen und noch so einträgliche Geschäfte machen
dürfen: niemand unter seinen heutigen Gegnern hätte ihn dann
gestört.
Denn das, was Herr Erzberger nach den Nachweisungen seines
Prozesses schlimm st enFalls tut, ja, was ist das anderes als das,
was alle, die heute über ihn den Stab brechen, in genau gleicher
Weise, sei es getan haben, tun oder tun würden, wenn sie die Mög-
lichkeit dazu hätten und sobald sie sie haben. Und wenn die Geschäfte,
die Herr Erzberger gemacht haben soll, nach dem Worte Helfferichs
eine „Korruption" darstellen, ja dann ist es eben die ganze
bürgerlich-kapitalistische Korruption, der gerade die
Anhänger dieser schönsten aller Gesellschaftsordnungen, der bürgerlichen
nämlich, feit je huldigen und die sie mit allen Mitteln sich zu erhalten
suchen: und der Gestank, der aus dieser Kloake aufsteigt, ist er etwa
ein sozialistischer oder ein demokratischer Duft?
Ist er nicht der bekannte, alte, in jeder Skandalafsäre erneut auf-
brechende Gestank des nacktesten Egoismus, der unendlichsten
Plusmacherei, der übelsten Geschäfte, kurz des kapi-
talistischen Profit g ei st es? Und ist ihm von bürgerlichen
Politikern bloß Herr Erzberger verfallen? In wieviel Aufsiastsraten
saß Herr Bajsermann, in wievielen sitzt Herr Stre s c m a n n,
in wievielen andere bürgerliche Parlamentarier? Wieviel Schieds-
sprüche hat so manch anderer gefällt, wieviel Empfehlungen an Re-
gierungsstellen, für wieviel Groß- und Kleini'ndustnelle, für wleviel

Spekulanten und Geschästsunternehmen haben sie, die vorerst im stillen
Blühenden, ihren Einfluß verwendet? Und hat nicht selbst ein Bis-
marck, um die große Politik wissend, manch ein hübsches Börsenspeku»
latiönchen gemacht? Nein, die Rechte sollte, wäre sie klug, dieses Ka-
pitel nicht weiter berühren: es ist, meine Herren, zn
gefährlich für Sie.
Nur eines möchten wir hinzufügen: die Großagrarier und Fr-
nanzmagnaten sollen sich nicht einbilden, daß die Beseitigung Erz-
bergers etwa eine Wendung der Steuer- und Finanzpolitik zu ihren
Gunsten' bedeuten könne. So, wie die Dinge heute liegen, wird in
der Richtung einer radikalen Wegsteuerung der großen Vermögen
und Einkommen unmöglich mehr ein Schritt zurück getan werden
können. Im Gegenteil: die Arbeiterschaft im Bunde mit allen ihrer
proletarischen Klassenlage sich bewußt werdenden Beamten, Ange-
stellten und Intellektuellen wird von Tag zu Tag jchärser neben
einer radikalen Steuerpolitik die Vergesellschaftung der großkapita-
listischen Monopolgrundlagen unserer Volkswirschaft fordern. Die
Not zwingt uns zu diesem Schritt, ohne ihn kommen wir nicht aus
dem sozialen Elend heraus. Was nützen alle Teuerungs- und Kin-
derzulagen, alle Steuern und Abgaben, wenn Tag für Tag die
Preise steigen und immer größere Schichten einfach dem Elend
preisgegeben werden. Und warum? Weil die Profitgier des
Kapitalismus auch heute noch trotz gesteigerter Selbstkosten den
Aktionären dieselben Dividenden zukommen lasten muß wie ehedem,
natürlich auf Kosten der Nur-Konsumenten! Während die einen
nicht wissen, wie sie ihren Kindern die notwendigste Kleidung und
Nahrung beschaffen sollen, machen die anderen Valutagewinne und
leben in Wonne und Freuden! Es ist bereits die elfte Stunde!
Wehe, wenn der Zeiger auf zwölf steht und die Zeichen der Zeit
nicht erkannt worden sind!
In Baden hat der Landtag seine Arbeiten im vollen Um-
fange wieder ausgenommen. Sie vollzieht sich allerdings nicht in
den Plenarsitzungen, wo nur fertige Resultate zum Gesetz erhoben
und für die Wählermasten berechnete Reden „zum Fenster hinaus"
gehalten werden, sondern in der Stille der Fraktions- und Kommis-
sionszimmer. Der 7. und 8. Nachtrag, die insbesondere den Teue-
rungs-, Kinder- und Pensionszulagen für Beamte und Staats-
arbeiter ihre Entstehung verdanken, sind ferttggestellt. Mit sicht-
licher Freude konnte der Finanzminister in der Dvnnerstagssitzung
konstatieren, daß die badische Finanzpolitik auf gesunden Füßen steht,
daß — abgesehen von der Eisenbahn, die an das Reich übergeht —
von einer allgemeinen Staatsschuld nicht die Rede sein kann.
Wichtige Gesetzesvorlagen sind zurzeit in Bearbeitung, die auch
für die sozialistischen Volkskreise von größtem Intereste sind: die
Revision der Bad. Verfassung, die durch die Reichs-
verfassung notwendig geworden ist; im Zusammenhang damit wird
die Frage des Einheitsstaates gründlich erörtert werden müssen.
Das Landwirtschaftskammergesetz soll demokratisiert
uno der landwirtschaftlichen Arbeiterschaft eine entsprechende Ver-
tretung geschaffen werden. Ein Verbraucherkammergesetz
will neben die bisherigen gesetzlichen- Vertretungen der Produzenten-
und Handelskreise eine Vertretung der Konsumenten stellen, die sich
wesentlich auf die Konsumgenossenschaften stützen wird. Außerdem
wird die Frage der Sozialisierung der Karlsruher Ma-
jolikamanufaktur und die Interpellation über die Reichs-
schulkonferenz uns Sozialdemokraten Gelegenheit zu wertvoller posi-
tiver Arbeit geben. —

Politische Ueberficht
Am 18. April Gemeindewahlen in der Pfalz.
München, 26. Febr. In einer gestern zwischen den pfälzi-
schen Abgeordneten und dem Minister des Innern stattgefundenen
Aussprache trat Uebereinstimmung darüber zutage, daß die Ge-
meindewahlen nicht weiter hinausgeschoben werden können. Als
Termin für die Gemeinde-, Bezirks- und Kreisratswahlen wurde
der 18. April bestimmt. Es kommen die im Gesetz vorgesehenen
g eb u n d en e n L ist e n zur Anwendung. Ein Antrag von Becker
u. Gen., die sog. freien Listen zur Anwendung zu bringen, wird
bezüglich der diesmaligen Wahlen nicht weiter verfolgt.
Friede mit Rußland.
Die Sozialdemokratische Fraktion der Preußischen Lanedsver-
sammlung hat folgenden Antrag eingebracht: „Die verfassung-
gebende Preußische Landesversammlung wolle beschließen: die
Staatsregierung zu ersuchen, bei der Reichsregierung dahin einzu-
wirken, daß sie in planmäßiger Fortsetzung ihrer bisherigen Außen-
politik auf friedliche und korrekte Beziehungen mit allen Staaten,
insbesondere unseren Nachbarstaaten, hinarbeitet. Unter der Vor-
aussetzung, daß Sowjet-Rußland auf die Einmischung in die inner-
deutschen Verhältnisse verzichtet, soll auch mit der Sowjet-Republik
Rußlands die wirtschaftliche und diplomatische Beziehung möglichst
rasch wieder ausgenommen werden, ohne indessen den Charakter
eines Bündnisses anzunehmen und den Frieden mit irgendwelchen
anderen Staaten zu gefährden."
Reichsschulausschuß.
Die Verhandlungen des Reichsschulausschustes wurden am
Mittwoch unter dem Vorsitz des Unter st aatssekretärs
Schulz fortgesetzt und zu Ende geführt. Zunächst überwies der
Ausschuß nach Vorträgen der Herren Gewerbelehrer Baar vom
Reichsministerium des Innern, Ministerialdirektor von Seefeld und
Landesgewerberat Dr. Ziertmann vom Preußischen Handelsmini-
sterium die von den beiden letztgenannten Nednern vorgelegten Leit-
sätze über die Frage der Umgrenzung und der Durchführung "des
Fortbildungsschulpflicht der Reichsschulkonferenz als Material.
Ueber die Tagung des Ausschusses für die Neuordnung der
deutschen Rechtschreibung berichtete der Geh. Regierungsrat Dr.
Karstädt vom Preußischen Kultusministerium. Er empfahl dem
Reichsschulausschuß, sich dem auf jener Tagung von der überwiegen-
den Mehrheit angenommenen Votum auf durchgreifende Neugestal-
tung der Nechtschreibung anzuschließen und mit der weiteren sach-
lichen Behandlung der Frage einen engeren Ausschuß von Fach-
männern zu beauftragen. Als Berichterstatter der Minderheit
wandte sich Prof. D r. Saran aus Erlangen gegen eine
weitgehende Neuerdnung der Rechtschreibung
 
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