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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Binsheim, Eppings«, Eberbach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg,
Tauberbischofsheim und Wertheim.


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Heidelberg, Samstag, ^3 März ^920
Nr. 62 * 2. Jahrgang

Verantwort!.: Für inner« u. äußere Politik, Volkswirtschaft u.Feuilleton: Li.
E.Kraus: für Kommunales u. soziale Rundschau: Z.Kahn- für Lokales!
O.Geibrl, für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberz
Druck und Verlag der llnterbodischen Verlagsanstalt G. m. b. H., Heidelberz
Geschäftsstelle: Schröderstraße 39.
Fernsprecher: Anzeigenannahme 2673, Redaktion 2648.

Generalstreik der Sozialdemokratie.
Berlin ,13. März. (W.B.) Wie wir hören, hat General
von Oldenhausen im Lause der Rächt mit der Marinebrigade Ehr-
hardt verhandelt. Die von der Brigade gestellten Forderungen
wurden in der Nacht von» Kabinett bis gegen den frühen Morgen
beraten. Die Forderungen wurden abgelehnt. Die Truppen sind
in Berlin eingerückt und haben um 6 Uhr früh die Wilhelmstrahe
besetzt. Zu Gewalttätigkeiten scheint es bisher nicht gekommen zu
sein. Die Sozialdemokratische Partei proklamiert den General-
streik.

Gegenrevolution in Berlin.

Reaktionäre Umsturzbervegung.
Berlin, 12. März, 3 Uhr nachmittags. Gegen den General-
landwirtschastsdirektor Kapp, den Hauptmann Lepka und die
Schriftsteller Grabowski und Schnitzer wurde die Schutzhast ver-
hängt. Die beiden Erstgenannten sind noch nicht aufgefunden wor-
den. Die Sicherheitswehr und die Reichswehr ist im Alarmzu-
stand. Von zuständiger Stelle wird mitgeteilt, daß in Berlin das
Treiben einer rechtsradikalen Klique eingesetzt hat, deren Bestreben
auf Umsturz hinausläuft. Es wir festgestellt, daß die Rechtspar-
teien der deutschen Nationalversammlung und der preußischen Lan-
desversammlung als Parteien dieser Sache sernstehen.
Berlin, 12. März. (W.B.) Der Schriftsteller Schnitzler,
über den die Schutzhast verhängt wurde, gehört der Pressestelle des
Korps Lüttwitz an. Grabowski war Pressechef bei der Garde-
kavallerie-Schützendivision. Er ist nicht zu verwechseln mit dem
Herausgeber der Zeitschrift „Neues Deutschland" Adolf Gra-
bowski.
Berlin, 12. März. (W.B.) Zusammenhängend mit den
Schutzmaßnahmen wurden die Wohn- und Büroräume der in
Frage kommenden Persönlichkeiten einer eingehenden Durchsuchung
unterzogen. Auch die Geschäftsräume der nationalen Vereinigung,
Schellingstraße 1 wurden von Kriminalbeamten besucht. Sie be-
schlagnahmten das gesamte Material.

Die Neichsregierung entflohen?
Franksurt, 13. März. >- 1v Uhr vorm. Die hiesigen „Franks.
Nachrichten verbreiten die Meldung, -aß die Reichsregierung ent-
flohen sei und Landwirtschaftsdirektor Kapp die Regierung über-
nommen habe. Eine Bestätigung dieser Nachricht bleibt abzu-°
warten.

Die Truppen der Gegenrevolution in
Berlin.
Berlin, 13 .März. (W.B.) tteber die Bedrohung Berlins
durch einen militärischen Putsch schreibt das „Beil. Tagbl.", etwa
80VV Mann gegenrevolutionäre Truppen, die sich um die beiden
Brigaden Ehrhardt und Löwenfeld gruppierten, sind in der Nähe
von Döberitz konzentriert und sollen die Absicht haben, in der Nacht
gegen Berlin vvrzumarschieren um die Regierung in ihre Hand zu
bringen. Es scheint sich nicht um einen ausgesprochenen monar-
chistischen Putsch zu handeln, sondern um den Versuch einer Reihe
von Offizieren, die gegenwärtige Regierung zu stürzen, und ein
ihnen genehmes Ministerium aus lauter Fachleuten mit wahrschein-
lich einem Diktator an der Spitze zu errichten. Im Austrage der
Regierung fuhr Admiral von Drotha nach Döberitz, um die Gegen-
revolutionären von ihrem politischen wahnwitzigen Staatsstreich ab-
zuhalten. Der Admiral kehrte in den ersten Nachfflunden nach
Berlin zurück, nachdem er den Versuch gemacht hatte, beruhigend
aus die Truppen in Döberitz einzuwirken. Es scheint eine gewisse
Entspannung eingetreten zu sein, aber der Admiral betonte, daß die
Situation sich von Stunde zu Stunde verschieben könne.
Berlin, 13. März. (W.B.) Die in Döberitz konzentrierten
Truppen, darunter die beiden Marinebrigaden Ehrhardt und Lo-
wenfeld sind nach Berlin vorgerückt und standen gegen R>5 Uhr
früh am Bahnhof Tiergarten.

Baden in Deutschland voran!
Das „Berliner Tagblatt" veröffentlicht folgende Zu-
schrift:
In unserem Leitartikel vom 3. d. M. „Die Verfassung
Preußens war erwähnt worden, daß die süddeutschen Staaten
Preußen im Verfassungswerk vorangegangen sind, u. daß Würt-
temberg seine Verfassung bereits am 20. Mai 1919 verabschie-
det hat. Hierzu schreibt uns der Abg. Dr. Emil Kraus Chef-
redakteur der Heidelberger „Volkszeitung":
„Als Mitglied des badischen Landtages teile ich Ihnen mit,
daß das erste Land, das sich eine neue demokrattsch-republikani-
sche Verfassung gegeben hat, Baden war, und zwar am 21.
März 1919 (Volksabstimmung am 13. April 1919). Diese
Verfassung ist für manche Teile anderer Landesverfassungen
Vorbild gewesen. Dies als Beitrag zur historischen Wahrheit!"
Wir geben dieser Auschrist gern Raum und bemerken, daß in
dem bezeichneten Artikel nicht berücksichtigt war, einen vollständigen
lleberblick über die Verfassungen der deutschen Länder zu geben.
Uebrigens führt auch der badische Präsident, den der Landtag all-
jährlich aus den Ministern ernennt, ähnlich wie der hessische die
Amtsbezeichnung „Staatspräsident."

die Aufgabe vorangesteltt. die zu lösen war. Dasselbe
Opfer haben wir heute in anderer Stellung und in anderem Ver-
bände zü bringen. Aber nicht wir allein, sondern zusammen mit
anderen. Mit uns treten die Niederlande in den Bund, di«
in ebenso heroischen Kämpfen wie unsere Altvordern ihre Freiheit
sich erstritten und ihre Unabhängigkeit behauptet haben. Und mit
uns sind dem Völkerbund die anderen Neutralen bei-
getreten, um das Werk aussöhnender Gerechtig-
keit zu beginnen. Honestati cvnsulitur et utilitati publice provt-
detur dum pacta quietis et pacis statu debito solidantur: es ziemt
sich wohl und dient dem öffentlichen Nutzen, daß Verträge
der Sicherheit und des Friedens gehörig verfestet
werden. Möge das am 16. Mai durch das Schweizervolk nach
der Alten Vorbild wieder geschehen!"
Wenn nur bald einmal alle sozialdemokratischen Ueberlegungen
von deran weitausschauender weltpolitischer Vernunft getragen
würden!
Von größter Bedeutung für die Wirtschaftspolitik Europas
ist das Wirtschaftsmanifest des Londoner Ober-
sten Rates. Das Valutaelend hat allmählich einen Umfang
angenommen, daß auch die Siegerstaaten im Interesse ihrer eige-
nen Produktion und ihres Exports ihm nicht mehr gleichgültig
gegenüberstehen können. Vor allem war es der italienische
Ministerpräsident Nitti, der sich in London aufs nach-
drücklichste für eine Revision des Friedensvertrages eingesetzt hat.
In Italien ist am ersten von allen Verbandsmächten der Sieges-
rausch am raschesten verflogen, dank der Tatsache, daß Italien von
allen Verbandsmächten das valutaleidendste ist und daher an einer
raschen Gesundung der europäischen Valuta interessiert ist. Nitti
hat mit englischer Unterstützung Erfolg gehabt. Das wirtschaftliche
Memorandum erkennt prinzipiell die Notwendigkeit, Deutschland
zu helfen und die Valuta zu gesunden, an. Drei Momente sind
entscheidend: 1. die Entschädigungssumme soll möglichst bald fest-
gesetzt werden unter ehrlicher Berücksichtigung der deutschen Wirt-
schaftslage; 2. Deutschland soll gestattet werden, eine internationale
Anleihe auszuschreiben, um die notivendigsten Lebensmittel und
Rohstoffe zu beschaffen. Dabei ist außerordentlich wichtig, daß die
Summen, die zur Verzinsung dieser Anleihe notwendig sind, vor
den Enffchädigungsansprüchen der Alliierten den Vorrang haben
sollen. Hier liegt bereits die konkreteste Revision der wirtschaft-
lichen Friedensbedingungen. 3. Um dem Valutaelend zu steuern,
um gleichsam die enormen Valutadifferenzen zwischen exportieren-
den und portierenden Ländern zu elimentieren, soll mehr und mehr
ein direkter Tauschverkehr, ein internationales Kontokorrent- und
Kreditsystem Platz greifen. Alle diese Londoner Beschlüße sind
von der allergrößten Tragweite. Vor allem zeigt sich hier wieder
eine der großen Paradoxien und Ironien der Weltgeschichte: der
trennende Völkerkrieg wurde ein Schritt zur wirtschaft!. Gemein-
schaftsarbeit der Völker. Ein glänzendes Beispiel für die material.
Geschichtsauffassung von Marx, für die Richtigkeit der ökonomische«
Dialektik. Man wird gespannt sein können auf die Ergebnisse der
demnächstigen Finanzkvnferenz des Völkerbundes in Brüssel. Wie
man hört, soll Deutschland dazu geladen werden.
Während so der außenpolitische Horizont sich allmählich zu
lichten beginnt, ziehen am innerpolitischen Horizont immer dunklere
Wolken herauf. Aber heute ist es nicht mehr so sehr die Gefahr
von links als solche, die den Bestand des republikanischen Staates
bedroht; man hat dort, wie die letzten Reden Crispiens, Henkes
u. a. zeigen, längst eingesehen, daß man nicht einfach nach dem
Rezept des russischen Bolschewismus in Deutschland sozialisieren
kann, man ist gemäßigter, parlamentarischer geworden. Nein, es
ist die Reaktion von rechts, die jetzt die. Zeit für gekommen
erachtet, der jungen sozialen Republik den Todesstoß zu versetzen.
Der erste große Auftakt dazu war der Prozeß gegen Erzberger
und das Erzbergerattenlat. Der Vorstoß Helfferichs und das, was
die reaktionäre Presse aus ihm machte, galt nicht den kleinen Ver-
fehlungen, Auffichtsratsbeteiligungen usw., die sich der Parlamen-
tarier Erzberger hat zuschulden kommen lassen, sondern dem Fi-
nanzminister, der im Bunde mit der Sozialdemokratie eine anist
kapitalistische Steuergesetzgebung durchzuführen wagte. Und in
dieser Hinsicht ist es zu bedauern, daß Erzberger jetzt politisch un-
möglich geworden ist und vor allem, daß Helfferich den Triumph,
Erzberger gefällt zu haben, für sich buchen kann. Mit der Auf-
stellung Hindenburgs als Kandidaten für das Reichspräsidium und
mit dem Antrag auf Auflösung der Nationalversammlung am
1. Mai versuchte die Reaktion neue Kraftproben. Erfreulicherweise
war das Echo km politischen Leben ein sehr schwaches. Das darf
uns aber nicht darüber Hinwegtäuschen, daß wieder weite Kreis«
unseres Spießbürgertums für die Schlagworte der Rechten emp-
fänglich geworden find. Und Hand in Hand mit den „Kaiser-
treuen" gehen die gewesenen Kriegsleutnants, die jetzt in studen-
tischem Antisemitismus machen, die reaktionäre Professorenschaft,
die vor dem Moment bangt, wo das Proletariat sein Recht auf die
Universität fordern wird, die Schieber und Kriegsgewinnler mit
ihren Maitressen uff. Ein kleines Stimmungsbild aus dem „B e r-
liner Tagebl a t t":
„Der widerwärtigste, geschmackloseste Luxus, die brutalste
Verschwendungssucht brüsten sich, stellen sich herausfor-
dernd zur Schau. In Hunderten von Restaurants und geheime«
Nachtlokalen trinken grüne Bengel, die von der Börsenhausse pro-
fitiert, oder gestohlene Teppiche verhandelt oder sonst im Trüben
gefischt haben, mit ausgeputzten Aphroditen den Sekt zü hundert-
undzwanzig Mark. Oben drüber aber thront in den splendiden
Speisesälen der Hotelpaläste und dort, wo die Preise ins Märchen»
haste steigen, eine sogenannte Creme. Wenn dort deutsch-
nationale Dinierer das „Heil dir im Siegerkranz" und
das „Deutschland, Deutschland über alles" grvhlen, stimmen ge-
wöhnlich Schieber im ersten Smoking und verfettete Schieberinnen,
die sich Gott sei Dank zu den monarchistischen Kreisen hingezogen
fühlen, begeistert mit ein. Gestern hat, wie berichtet wird, ein'
vermutlich betrunkener prinzlicher, schon reifer
Lebejüngling in einem dieser Hotelsäle seinen Mitt bewiesen,

Rückblick.
Kr. Heidelberg, 13. März.
Während in Deutschland desoffene Preußenprinzen in der ab-
scheulichsten Weise Entenkeoffizieren ihren junkerlichen Chauvinis-
mus kundtun, während antisemitisch-reaktionär verhetzte Studenten
Streiks gegen jüdische Gelehrte von namhaftem Ruf inszenieren
und Professoren wegen pazifistischer Gesinnung nicht mehr für
würdig erachtet werden, weiterhin als Dozenten tätig zu sein, hat
sich in der Weltpolitik ein entscheidendes Ereignis im Sinne der
Bildung einer Völkergemeinschaft und einer Welfftaatenvrganisa-
lion vollzogen: die Schweiz, Holland, Dänemark und Schweden
haben ihre «Beitritt zum Völkerbund erklärt. Es ist außerordent-
lich bedauerlich, daß das unselige innerpolitische Parteigezänk weite
Schichten unseres Volkes die Bedeutung solch wichtiger weltge-
schichtlicher Vorgänge nicht erkennen läßt; und dvcv tut uns Deut-
schen heute nichts mehr not als gediegene weltpolitische Schulung.
Der Völkerbund, wie er durch die Völkerbundsakte des
Versailler Friedensvertrages gebildet worden ist, umfaßt als ur-
sprüngliche Mitglieder zunächst alle die alliierten und assoziierten
Mächte, welche den Friedensvertrag unterzeichnet haben sowie alle
die neutralen Staaten, die in der Völkerbundsakte eingeladen wer-
den, innerhalb von zwei Monaten nach Inkrafttreten des Friedens-
vertrages ihren Beitritt beim Sekretariat des Völkerbundes an-
zumelden. Es sind das: Argentinien, Chile, Columbien, Däne-
mark, Spanien, Norwegen, Paraguay, Niederlande, Persien, Sal-
vador, Schweden, Schweiz, Venezuela. Es ist natürlich für die
ganze Lebensfähigkeit und Entwicklung des Völkerbundes von ent-
scheidender Bedeutung, ob auch alle diese besonders eingeladenen
Staaten ihm als ursprüngliche Mitglieder beitrcten oder nicht.
Ohne sie würde er aus lange Zeit nur ein Bund der Entente sein,
eine Kriegsvrganisation nach dem Kriege; mit ihnen aber westet
er sich wirklich zu einem demokratischen Weltstaatenbund aus; er
wird mit innerer Notwendigkeit auch zur Aufnahme der besiegten
und zusammengebrochenen Mittelmächte schreiten müssen. Darin
siegt nun die Bedeutung der Tatsache, daß in ^den letzten 14 Tagen
auch die Schweiz, Holland, Dänemark und Schweden ihren Bei-
tritt angemeldet haben. Die Kammerdebaiten, die in diesen Staa-
ten über das Völkerbundsprvblem geführt worden sind, gewähren
einen Einblick in die tiefsten Fragen, welche zurzeit die weltpolitische
Entwicklung im Innersten bewegen.
Interessant ist für uns besonders die Stellung, welche die
Sozialdemokraten zu diesem Weltproblem einnehmen; hier
treten bezeichnende'und interessante Gegensätze zutage. In der
Schweiz haben die Sozialdemokraten im Bunde mit einigen
reaktionären konservativ-christlichen Bauernverkretern gegen den
Eintritt in den Völkerbund gestimmt. Warum? Unsere Genoßen
in der Schweiz wissen sehr wohl, daß die Zeit der Abgeschlossenheit
und des Für-fich-Seins nationaler Einzelstaaten vorbei ist. Aber
der Völkerbund, wie ihn Wilson geschaffen hat, ist ja ein Bund
kapitalistischer, bürgerlich-demokratischer Regierungen und Staaten,
und einen sollen Bund glauben sie aus international-sozialistischem
Prinzip bekämpfen zu müßen. Sie glauben, unter dem Einfluß
einer bolschewistischen Radikalisierung, daß nur durch eine Gewalt-
aktion des Proletariats, durch eine internationale Arbeiter- und
Soldatenratsbewegung das Ziel einer sozialen Weltorganisation
erreicht werden könne. Ganz anders unsere Genoßen in Hol-
land. Auch sie sehen natürlich in dem Völkerbund von Versail-
les keineswegs das Ideal ihrer Wünsche. Aber sie halten ihn doch
für einen ersten Anfang positiver welfftaatlicher Organisation. Sie
sind der Ueberzeugung, daß nun durch den Beitritt restlos aller
Staaten und ein möglichst starkes sozialistisches Element in ihm
dieser Völkerbund das werden kann, was er eigentlich seiner Idee
nach sein will und soll. Wir sind der Ansicht, daß jedenfalls die
größere weltgeschichtliche Einsicht und Vernunft der den hollmchi-
schen und nicht bei den schweizerischen Genossen zu suchen ,st. Man
kann sehr gut tätiges Mitglied -er sozialistischen Internationale
und zugleich positiv schaffendes Glied des demokratischen Volker-
burrdes sein, das eine tun und das andere nicht lassen, ist auch hrer
die beste Parole. Jedenfalls ist das weitaus fruchtbarer als die
wertlosen akademischen Debatten über zweite, dritte oder vierte
Internationale, wie sie der Leipziger U.S.P.-Parteikag und jetzt
wieder mit erschreckender Oberflächlichkeit der französische Sozia-
listenkongreß in Straßburg gezeitigt haben. Als Musterbeispiel
wahrer weltpolitischer Einsicht führen wir die Worte an, mit denen
die freisinnige „Neue Züricher Zeitung" den 10. Marz
als den Tag des Eintritts der Neutralen m den Völkerbund be-
grüßt. Nachdem sie die Neutralen aufgezählt hat, an welche die
Einladung ergangen ist, fährt sie fort: „Irren wir nicht, so haben
all« dreizehn Staaten der Einladung 8 o l g e ge-
leistet. Das gilt vor allem für die sechs europäischen Staaten.
Dadurch ist nun effektiv die „S i e g e r a ll i an z', die Gesamt-
heit der Staaten, die durch die Unterzeichnung des Versailler Fne-
densvertrages Mitglieder der Bölkerliga geworden waren, zu einer
Staatenorganisation nie gesehenen Umfanges geworden. Gewal-
tige Aufgaben sind ihr gestellt; in ihnen erblicken wrr tue Bürg-
schaft dafür, daß in absehbarer Zeit ine wenigen Staaten, die iwch
draußen stehen, der Liga bestreten." , <_
Und nach einem Rückblick auf die Zeiten der aus denen
heraus die Schweizer Eidgenoßenschaft entstanden ist, schließt das
Blatt: „So war unser Bund der Eidgenoßen entstanden, m schwe-
ren Zeiten bitterer Not, da es galt, sich aufrechtzuerhalten, und mtt
einem Geltungsbereich, der weit über die Landesgrenzen hlnuder-
grisf Wir sind rbieder in eine Zeit größter Not geraten, nur daß
sie bei der wirtschaftlichen Verkettung der Staaten die Welt mit
Elend und Sturz ins Chaos bedroht; und wir, -re wir mit -em
internationalen Wirtschaftslebender Basis der heutigen Zivili-
sation aufs innigste verknüpft sind, sind verpflichtet, die Bande der
Solidarität entsprechend der modernen Entwicklung weiter zu er-
strecken, mit unserer ganzen Eidgenossenschaft ein Glied zu werden
der einzigen Organisation, die von dem Ruin uns scheidet. Dieser
neu« Geftungsbereich wird uns Pflichten auferlegen, wie die alten
Bünde den alten Eidgenossen. Die alten Eidgenoßen haben aber
 
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