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Volkszeitung: Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung des ganzen badischen Unterlandes (Bezirke Heidelberg bis Wertheim) (1/2) — 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.44126#0035
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Tageszeitung für die werktätige Bevölkerung der Amtsbezirke Heidelberg, Wiesloch, Ginsheim, Gppingen, Ebe,-dach, Mosbach, Buchen, Adelsheim, Boxberg,
Tauberbrschofsheim und Wertheim

2«M-epreis: Monatlich einschl. Trägettohn 2.5« Ml. Anzeigenpreise:
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tss »«I breit) 2.- Ml. Lei Wiederholungen Nachlaß nach Tarif,
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GWäftSstunden: s - '^6 Llhr. Sprechstunden der Redaktion: 11 -12 Llhr.
poWcheckkonts Karlsruhe Nr. 22577. Tel.-Adr.: Volkszeitung Heidelberg.

Heidelberg, Samstag, 40. Januar 4920
Rr. 8 » 2. Jahrgang

-!>!. -
Verantwortl.: Für innere u. äußere Politik, Volkswirtschaft ».Feuilleton: Dr.
E.Kraus; für Kommunales u. soziale Rundschau: I. Kahn; für Lokales:
O. Gejbel; für die Anzeigen: H.Hoffmann, sämtlich in Heidelberg.
Druck und Verlag der llnterbadischen 1-erlagsanstal! G. m. b. H., Heidelberg.
Geschäftsstelle: Gchröderstraße ZS.
Fernsprecher: Anzeigen-Annahme 2673, Redaktton 2648.

England und die türkische Frage.
Die Teilnehmer an -er Pariser Konferenz.
Zürich, 7. Januar,
Tvr Beginn der neuen Konferenzen in Paris ist nunmehr end-
HM>g aus Mitte nächster Woche festgesetzt. Es werden daran teil-
*ch»en Clemenceau und Pichon für Frankreich, Lloyd
Eeorge, Balfour und Curzon für England, Wallace
tür Amerika, nicht als Bevollmächtigter, sondern lediglich als Be-
ratender, Nitti und Scia-lvja für Italien, Pasitsch,
Trumbitsch und Oler für Serbien, Palek für Polen,
Vaida für Rumänien, Osseskifür Jugoslawien. Wie bei der
erste« Friedenskonferenz, werden die hauptsächlichsten Besprechun-
gen von einem Viererrat. der aus Lloyd George, Clemenceau,
Wallace und Nitti besteht, geführt werden, jedoch werden die Mächte
»st sekundären Interessen zu den Sitzungen eingeladen werden, in
denen sie interessierende Punkte erörtert werden. Belgien und
Japan sind aufgefordert worden, ebenfalls Delegierte zu entsen-
de», haben bisher aber noch keine Antwort gegeben und werden
voraussichtlich an der Konferenz nicht teilnehmen.
Die erste Frage, die zur Besprechung gelangen wird, ist, wie bereits
Gemeldet, das türkische Problem. Man glaubt die Lösung dieser
Frage werde dahin gehen, daß in Anatolien eine unabhängige
Türkei errichtet wird, die jedoch unter schärfster Kontrolle der
Alliierten stehen soll. Falls die Liga der Nationen verwirklicht werden
kann, wird sie das Mandat über K o n st a n t i n o p c l und die Meeren-
gen erhallen. Griechenland erhält Smyrna, jedoch nicht
als alleinigen Besitz, sondern wahrscheinlich mit einer anderen
Macht, Es wird ein Hinterland für Smyrna geschaffen, das diesen bei-
den Machten zur Verwaltung anvertraut wird. Palästina und M e -
svpolamien werden von England verwaltet; dieses mutz sich jedoch
verpflichten, ein national-jüdisches Zentrum in Palä-
stina zu schaffen. Die Aufteilung der übrigen Türkei ist zur Stunde
«och nicht entschieden. Die Italiener haben zwar einen Teil von
Anatolien besetzt und wünschen dort zu bleiben, doch herrscht in dieser
Beziehung noch Unklarheit.
Die Art der Lösung des türkischen Problems, die im wesentlichen den
englischen Forderungen entsprechen würde, hängt jedoch von
der weiteren Haltung der Vereinigten Staaten ab, wie denn
überhaupt die Beutteilung der ganzen Frage durch die französische Presse
eine allgemeine Unklarheit zeigt, die nur durch eine bestimmte Haltung
Amerikas beseitigt werden könnte. Clemenceau hat denn auch, wie
die Pariser Blätter andeuten, gestern und vorgestern beim ameiikan
ich«, Botschafter Wallace dringende Schritte unter-
nommen, die darauf hinauslaufen, Washington zu einer klaren Stellung-
nahme gegenüber dem gesamten Friedensproblem zu veranlaßen.
Die Zeitungen beschäftigen sich eingehend mit dieser Angelegen-
heit und nehmen immer entschiedener gegen die von Lloyd George
ausgecrrbeitete Lösung des Problems Stellung. Diese Losung würde
nicht mir keine Pazifizierung oder Regelung des Orientprvblems
-edeuten, sondern im Gegenteil nur neue Verwicklungen
Hervorrufen.

Politische Überficht
Protest in letzter Stünde.
Am 13. Januar wird die Nationalversammlung wieder zu-
wMMerttreten, um das Gesetz über die Betriebsräte zu verabschieden.
Ma« nimmt an, daß dazu vier oder höchstens fünf Sitzungen aus-
reich«» werden. Da auch gleichzeitig oder unmittelbar darauf die
Wahlordnung für die Betriebsräte, die im Entwurf bereits
vorliegt, fettig werden dürfte, so können die Wahlen in den
einzelnen Betrieben voraussichtlich dem Versprechen des Reichs-
kanzlers Bauer gemäß nochim Januar stattfinden. Angesichts
dieser Lage berührt cs eigenartig, daß jetzt noch die unabhängige
Sozialdemokratie einen Sturmlauf gegen das Betriebsrätegesetz
unternehmen zu wollen scheint. In einem Artikel der „Freiheit",
-er cm dem ganzen Gesetz kein gutes Haar läßt, wird diese Absicht
in folgender Weise angekündigt:
„Könnte man die Luft von dieser politischen Heuchelei reinigen
und nimmt man dann sachlich die Verhandlungen über das zu
schaffende Gesetz über Betriebsausschüsse auf, so sind zu den 106 Pa-
ragraphen des Gesetzes viele Forderungen zu erheben, deren
Erfüllung erst die Grundlage zu einer neuen Angestellten- und Ar-
beitervettrttung gegenüber den kapitalistischen Unternehmern schaffen
würde. Die Fraktion der Unabhängigen Sozialdemokratie wird durch
haarscharfe Formulierung dieser Forderungen in der öffentlichen Ver-
handlung der Nationalversammlung zu zeigen haben, was diesem Ge-
setz« alles fehlt, ehe es auch nur als Neuregelung einer Arbciterver-
tretung für den Gegenwattskampf des Proletariats gelten kann."
Wenn es der unabhängigen Sozialdemokratie wirklich um
fachliche Verhandlungen zu tun gewesen wäre, so hätte sie in
der sozialen Kommission der Nationalversammlung dazu reichliche
^elxgenheit gehabt. Denn wie man sich auch zu dem Ergebnis
stellen mag, so wird man wenigstens den Fleig. und die Ausdauer
anerkennen müßen, mit dem die Kommission gearbeitet hat. Aber
gerade bei der Einzelarbeit hat die unabhängige Sozialdemokratie
nicht mitgetan. Ihr Vertreter war währen- der Beratungen
häufig abwesend, und wenn er zugegen war, hat er an den sach-
lichen Beratungen kaum teilgenomtnen. Die Unabhängigen be-
gnügten sich mit einer zur Schau getragenen Geringschätzung des
ganzen Gegenstandes.
Ein Kinozenfurgesetz.
Berlin, 9. Ian. Im Reichsrat wurde heute der Gesetzent-
wurf über die Kinozensur beraten. Die Hauptbestimmung der
Vorlage geht dahin, daß nur solche Films vorgeführt werden dürfen,
die von einer amtlichen Prüfungskommission zugelasien sind. Die
Zulassung soll nur versagt werden können, wenn die öffentliche
Sicherheit gefährdet wird, wenn Films religiöse Gefühle verletzen
aber durch Erregung niedriger Triebe verrohend oder entsittlichend
wirken. Amtliche Prüfungsstellen sollen in Berlin und München
eingerichtet werden. Sie setzen sich aus Beamten und Sachverstän-
higen zusammen. Gegen den Bescheid der Prüfungsstcllen ist Be-
schwerde bei einer in Berlin zu errichtenden Oberprüfungsstelle
Mässig. Der Reichsrat nahm die Vorlage nach den Beschlüssen
de, Ausschußes mit der von einem preußischen Vertreter beantrag-
te» Abänderung an, nach der eine Ausnahme von der Prüfung
nicht nur für solche Films zugelaßen ist, die wissenschaftliche Zwecke
*ech^«y, sondern auch für künstlerische Films. Mit diesem Ab-

Nach der Ratifikation.
Berlin, 10. Jan. (W.T.B.) In der Note Clemenceaus,
die gestern dem Vorsitzenden dec deutschen Friedensdelegation über-
reicht wurde, wird mitgeteilt, daß die Kommissionen für die Be-
setzung Rheinlands und die Wiedergutmachungskommissivn in dem
Augenblick der Ratifikation des Friedensvertrages ihre Tätigkeit
beginnen werden; also morgen Sonnabend werden die genannten
Kommissionen ihre amtliche Tätigkeit aufnehmen. Wegen des Tä°
tigkeitsbeginn-es der übrigen im Friedensvertrag vorgesehenen Kom-
missionen erfolgt seitens der Alliierten noch nähere Mitteilung.
Einstellung des gesamtenPersonenverkehrs
in Bayern.
München , 10. Ian. (W.T.B.) Wegen vollständiger Stockung
der Kvhlenzufuhren wegen Streiks und Hochwasser wird vom
13. Ian. ab auf mehrere Tage der gesamte Personenverkehr auf
den bayrischen Staatsbahnen mit Ausnahme des Lebensmittelver-
kehrs eingestellt.
Loslösung der bayr. Volkspartei von
der Zentrumspartei des Reiches.
Berlin, 10. Ian. (W.T.B.) Wie dem „Lok.-Anz." aus
München berichtet wird, beschloßen gestern in einer außerordentlich
stark besuchten Versammlung die bayerische Volkspartei sich von der
Zentrumspartei der Nationalversammlung zu lösen.
Abschied des Admirals Meurer.
Berlin, 9. Ian. (Eigene Meldung.) Admiral Meurer, der
bisherige Chef der Marinestation der Ostsee, hat in seinem be-
kannten Neujahrsbefehl Ausführungen gemacht, die nur als ein
Angriff auf die Politik und die Autorität der Reichsregierung an-
gesehen werden konnten. Admiral Meurer hat daraufhin seinen
Abschied cingereicht, der ihm auch bewilligt wurde.
Moskau ur-d Irkutsk.
Aus Moskau wird gefunkt: Die Regierung Koltschaks ist
gefallen. Die neue sozialistisch-revolutionäre Regierung in Irkutsk
ist bestrebt, eine sozialistische Koalition zu schaffen, in welcher auch
die Räteregierung vertreten sein soll. Ein Abgesandter der Irkutsker
Regierung wird in den nächsten Tagen in Moskau eintreffen und
Verhandlungen niit der Räteregierung einleiten.
Weiter funkt Moskau, daß die roten Truppen das ganze Donetz-
decken besetzt haben und festhalten. Damit würde die Sowjetregie-
rung in den Besitz der Kohlenschätze Südrußlands gelangt sein.
Ein Bukarester Blatt meldet, daß die russische Regierung ein
neues Friedensangebot an die rumänische Regierung gestellt hat,
wonach Rußland die Angliederung Beßarabiens an Rumänien an-
erkenne, wenn Rumänien keine Truppen gegen die Bolschewisten
entsendet.
Die englische Eisenbohnerbervegung.
London, 10. Ian. (W.T.B.) Die Konferenz der Eisenbah-
ner lehnte sämtliche Angebote der Negierung ab. Sie teilte dem
Exekutivausschuß die Weisung mit, mit der Regierung wieder Ver-
handlungen anzubahnen.

änderungsantrag erklärte sich Minister Koch namens der Regie-
rung einverstanden.
Eine Note des deutschen Auswärtigen Amtes.
Berlin, 7. Ian. Der hiesigen schweizerischen Ge-
sa n d t s ch a f t ist folgende Verbalnote übergeben worden:
„Nach hier vorliegenden Nachrichten aus zuverlässiger Quelle herr-
schen in dem französischen Kriegsgefangenenlager Chateau London,
80 Kilometer südöstlich von Paris, folgende Mißstände: Die Kriegs-
gefangenen sind ohne Rücksicht auf ihren Dienstgrad in Holzbaracken zu
je 100 Mann untergebracht. Die Baracken sind kalt und undicht und
bieten keinen Schutz gegen die Witterung, insbesondere
dringt der Regen ein. Hcizvorrichtungen sind nicht vorhanden, ebenso-
wenig Waschgesäße und Handtücher Das Lagerstroh ist in neun Mona-
ten einmal erneuert worden. Die Latrinen sind gesundheitsschädlich;
nachts werden stinkende undichte Hvlzkisten in jede Baracke gesetzt. Es
herrscht Mangel an Kleidungsstücken und Wäsche. Alle vier Wochen
wird ein ungenügendes, viel zu kleines Stück Seife ausgegebcn. In-
folgedessen werden die Kriegsgefangenen stark'von Ungeziefer ge-
plagt, zumal da keine Entlausung stattfindet und die Badegelegen-
heit unzureichend ist. Arzneimittel fehlen. Die Ernährung ist unge-
nügend: 300 Gramm meist verschimmeltes Brot täglich, dazu dreimal eine
dünne, mit ganz wenig Speckwürfeln versehene Suppe aus madigen
Bohnen.
Durch einen von Deutschenhaß beseelten Posten sind ein Kriegs-
gefangener erschoßen und zwei erheblich verletzt worden, als sie zur La-
trine gehen wollten.
Das Auswärtige Amt erbittet die Vermittlung der Schweizerische;,
Gesandtschaft, um bei der französischen Regierung nachdrücklichst
Einspruch gegen diese Mißstände zu erheben und auf unverzügliche
Abhilfe zu dringen, sowie auch die Bestrafung des Postens zu fordern,
ferner wird gebeten, die französische Regierung zu ersuchen, die Nomen
des Getöteten und der beiden Verwundeten und die Begräbnisstätte des
Erschoßenen anzugeben, sowie eine Sterbeurkunde mitzuteilen und den
Nachlaß herauszugeben."
Der Bersicberungsstreik. — Die Sabotage der Unternehmer.
Berlin, 9. Ian. Heute vormittag sollten die schwebenden
Streitfragen der Versicherungsangesiellten im Vereinshause deut-
scher Ingenieure in der Sommerstraße vor den Schlichtungsausschuß
unter dem Vorsitz des Ingenieurs Lüdemann zur Verhandlung ge-
bracht werden. Der Vertreter des Arbeitgeververbandes, Dr. Rohr-
beck, erklärte aber, daß der Schlichtungsausschuß für diese Fragen
nach seiner Ansicht nicht zuständig sei und lehnte die Beteiligung
an den Verhanvlungen ab. Trotzdem dauern tue Bemühungen fort,
eine Einigung herbeizuführen.

Ausland.
Eine Arbeiterpartei in den Vereinigten Staate«.
„Het Volk" vom 3. Januar 1920 berichtet, daß Ende November
in Chicago mehr als 1000 Vertreter von organisierten Arbeiter«
zusammenkamen, um die Gründung einer Arbeiterpar-
tei in Erwägung zu ziehen, deren Zweck fein soll „alle Hand- und
Kopfarbeiter der Vereinigten Staaten zu organisieren, zur Errei-
chung einer politischen, sozialen und industriellen Demokratie", und
nachdem diese Vertreter vier Tage beisammen waren, wurde diese
„Arbeiterpartei" der Vereinigten Staaten gegründet. Diese Partei
ist ebensowenig wie ihre englische Namensgenossin eine scharf aus-
gesprochene sozialdemokratische, sondern höchst wahrscheinlich wird
sie ebenso wie die englische jetzt bereits für England, in Zukunst d i e
politische Partei der amerikanischen Arbeiter
werden. In den angelsächsischen Ländern scheint nun einmal die
Arbeiterbewegung einen anderen Entwicklungsgang durchmachen zu
müßen, als auf dem festen Lande von Europa. Und die amerikani-
sche sozialistische Partei — so hofft das sozialistische Blatt der Ar-
beiter in St. Louis auch — wird dann in demselben Verhältnis zu
der Arbeiterpartei in ihrem Lande zu stehen kommen, wie die I. L.
P. in England zu der englischen Arbeiterpartei. „Sie wird vorläu-
fig ihre Organisation in Takt halten, ihre klaffenbewußte Propa-
ganda fortsetzen und ihre Organisalionsarbeit noch energischer als
früher vollbringen müssen." Aber zugleich wird sie einsehen müssen
— meint das Arbeiterblatt von St. Louis — daß der politische
Klassenkampf in den Vereinigten Staaten auf der breitesten Basis
wird organisiert werden müßen. Und durch die Gründung der Ar-
beiterpattei ist damit der Anfang gemacht.
Die Präsidentenwahl in Frankreich.
Genf, 7. Ian. (Priv.-Tel.) Das Amtsblatt der französischen Re-
publik hat heute das Dekret veröffentlicht, durch das Kammer und Senat
für den 17. Januar nach Versailles einberufen werden, um als National-
versammlung die Wahl des Präsidenten der Republik vor-
zunehmen. Die Wahl des Präsidenten der Republik erfolgt bekanntlich
durch namentliche und geheime Abstimmung. Die Kammer wählt 6^>, der
Senat 314 Mitglieder. Kur Teilnahme an der Präsidentenwahl, bei der
übrigens jede Diskussion aus geschloßen ist, sind also 940 Wähler berech-
tigt. Nach allegemeiner Annahme wird Clemenceau ohne Gegner
mu mindestens 750 Stimmen gewählt werden. Die äußerste Linke und
einige alte Monarchisten auf der Rechten werden weihe Zettel obgeben.
Dieses Ergebnis wird als derart sicher angesehen, daß die Preße sich schon
gar nicht mehr mit der Präsidentenwahl selbst befaßt, sondern mit dem
Regierungswechsel, den sie nach sich ziehen muß. Selbst der
Royalist Leon Daudet, der jetzt der Kammer angehött, macht in der
„Action francaisc" das von ihm so ost gegeißelte paralmentarifche Kom-
binationsspiel mit und schreibt Clemenceau vor, wen er zur Regierung
berufen dürfe und wen nicht. In den Kombinationen der Zeitungen tre-
ten als Kandidaten für die Nachfolge Clemenceaus in der verantwortlichen
Leitung der Regierung außer Mil! erand neuerdings auch Barthou
und Deschanel auf, ebenso wie der Senator Ionnart und sogar der
jetzige Präsident Pvincarc. Es wird sich jedoch bald Herausstellen,
daß diese Kombinationen auf reiner Erfindung beruoen. Clemenceau
wird sich als Präsident der Republik einen Ministerpräsidenten suchen,
der ihm eine persönliche Garantie dafür bietet, baß er das Staatsober-
haupt, das heißt Clemenceau, mitregiercn laßen wird. Diese Voraus-
setzung erfüllt außer Millerand kein einziger der genannten Politiker.
Was insbesondere Poincare anbelangt, so besitzt Clemenceau selbst wohl
kaum die Selbstverleugnung, die sein Vorgänger ihm selbst gegenüber an
den Tag legte, als er ihn trotz dieser persönlichen Feindschaft zur Regie-
rung berief. Millerand ist übrigens ebenfalls eine sehr selbständige Na-
tur. Seine Ergebenheit für Clemenceau hat ihren Ursprung in der Dank-
barkeit des Schülers. Denn Millerand hat seine politische Lehrzeit wie
Pichon in der Redaktion einer der zahlreichen von Clemenceau im Laufe
der Jahrzehnte geleiteten Blätter absolviert. Ob diese persönliche Er-
gebenheit genügen wird, um Mißstimmungen zwischen dem verantwort-
lichen Ministerpräsidenten und dem unverantwortlichen Präsidenten der
Republik zu vermeiden, kann nur die Zukunft lehren.
Die Rationalisierung des tschechischen Katholizismus.
Prag, 9. Ian. Den Blättern zufolge tagte gestern eine Ver-
sammlung des tschechischen Klerus, die einberufen worden
war, um eine Entscheidung darüber herbeizuführen, ob die tschechi-
schen Geistlichen ihre Reformbestrebungen im Sinne -es
tschechischen Nationalismus innerhalb der römischen Kirche fort-
setzen oder sich außerhalb der römischen Kirche stellen sollen. Das
Ergebnis der Auseinandersetzung und der Abstimmung war, daß
140 Versammlungsteilnehmer sich f ü r L o s t r e n n u n g des tsche-
chischen Klerus von der römischen Kirche und für Begründung einer
katholischen Nationalkirche und 66 Mitglieder sich dagegen aus-
sprachen.

Badische Politik.
Eine große Karlsruher Eisenbahnerversammlung.
Der riesig besuchten Versammlung, von der wir bereits gestern
kurz berichteten, wohnten Finanzmini st er Dr. Wirth un-
verschiedene Abgeordnete bei. Ueber ihren Verlauf schreibt unser
Karlsruher ^--Berichterstatter:
Der Referent, Gauleiter Schneider, wies eingangs darauf
hin, daß Weihnachten keinen Oelzrveig gebracht habe, sondern wach-
sende Teuerung; -er „Siegfrieden" ist Wahrheit geworden — aber
für die anderen. Wie lange währt der Zustand, daß wir hungern,
wayrend die Schaufenster schönste Dinge darbieten? Soll nur ein
Teil des Volkes hungern?, fragen wir. Dabei sehen wir, wie sich
ein Heer von Schiebern und Schmarotzern weiter bildet. Die
Schutzwehr gegen die Anarchie ist die Gleichheit des Hungerns und
des Dankes (Bravo.) Das Wort vom A d ba u d e r P r ei s e hat
ftm sehr rcksch abgenutzt. In Amerika ist zur Zeit das Einkommen
eines Kohlenarbeiters 2000 Dollar; in unsere Valuta umgerechnet
80—90 000 Mk. Zu Berücksichtigung desselben haben wir bei uns
Schundlöhne. Wir haben Preissteigerungen von weit über 2—300
Proz.; dabei kommen noch Zahltage von 3.45, 9.00, 18.00 Mk. vor.
Da muß Not, Elend, Verzweiflung einziehen. Was muß gesche-
hen, was ist das Minimum der Forderungen? Eine Erhöhung
des Stücklohnes von 2 Mk. für alle Eisenbahner ist unbedingt nötig.
Weiter müssen wir die restliche Auszahlung der geforderten B e -
schaffungszulage und Kinderzulage — ohne Abstu-
fung nach Ortsgruppen — fordern. Wird unseren vermiedenen
 
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